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Abends war ich im "Ebenholz" in HF., einem zur Veranstaltungs-Location umgebauten Gasthof mit Saal und Bühne. Dort gab es ein Elektro-Festival mit mehreren kleineren Acts, unter ihnen Exilanation und Berenices Musikprojekt. Tyra war dieses Mal auch dabei. Berenice und Tyra tragen ihr Haar inzwischen beide schulterlang und dunkel gefärbt. Berenice hatte heute ein schwarzes Kleid mit Ausbrenner-Dekor an - vielleicht sogar das, in dem sie Rafa vor neun Jahren widerwillig zu Kappas Hochzeit begleitet hat.
Erst kürzlich meldete Rafa sich wieder bei Tyra und wollte sie zum Essen einladen. Tyra lehnte das ab. Sie befürchtete, daß ihm ein gemeinsames Essen nicht genügen würde. Sie berichtete, daß Rafa nicht aufhört mit seinen Versuchen, sie als Geliebte zurückzugewinnen.
Für Rafa war es noch nie ein Widerspruch, um Tyra zu werben und gleichzeitig mit anderen Mädchen Liaisons zu unterhalten. Und er ist sehr geübt darin, seine Geliebten voreinander zu verstecken.
Tyra hat Anfang Oktober eine Zwei-Zimmer-Wohnung in Bkb. gemietet, ist dort aber noch nicht eingezogen. Sie erzählte, sie werde in der neuen Wohnung eine Waschmaschine haben und nicht so abhängig sein von den Launen ihrer Mutter wie damals in SHG., wo die Mutter manchmal wochenlang Tyras Wäsche nicht abholte.
Im "Ebenholz" wurde ich am Merchandize-Stand von einem Verehrer namens Loki umgarnt. Er zeigte sich fasziniert von meinem "superscharfen Outfit". Ich hatte das schwarze Lackkleidchen an, das mit weißer Spitze verziert ist, und trug schwarze und weiße Bänder in der Zöpfchenfrisur. Als ich in einer Pause zwischen den Konzerten zu "Lost" von Rotersand tanzte, konnte Loki sich nicht darüber beruhigen, daß ich die Einzige war, die tanzte, und daß ich in Pirouetten über die Tanzfläche lief. Er wollte noch mehr davon sehen. Ich erklärte ihm, daß das von der Musik abhängt und daß ich nur wegen der Musik tanze.
Loki beschäftigte sich viel mit einem Flyer, der für Underground-Mode warb. Er hatte gedacht, die abgebildeten Kleidungsstücke seien für Ankleidepuppen, zum Ausschneiden. Ich gab ihm eine Schere, mit der er einige der Kleidungsstücke ausschnitt. Ich meinte, ich könnte zu Hause eine Puppe ausschneiden, der man diese Kleidungsstücke anziehen könne. Das wäre etwas für meine Nichte. Loki betonte, daß er sich mit solchen Ankleidepuppen auskenne, schließlich sei er Vater. Vor allem befaßte er sich mit dem Foto eines Schlüpfers, auf dem "Gothic Girl" stand. Er habe schon vieles gesehen, was auf den Strings der Mädchen gestanden habe. Doch keine, die er im Bett gehabt habe, habe einen String getragen mit der Aufschrift "Gothic Girl".
Als Loki mich nach meinem Alter fragte und ich wahrheitsgemäß antwortete, schien er damit nicht zurechtzukommen.
"He, du bist dreiunddreißig", sagte er, und in einen anderen Satz ließ er einfließen, ich sei achtundzwanzig.
Er selber ist Ende dreißig.
Es kam mehrfach vor, daß Loki mich betrachtete und dann sagte:
"He, geh' weg, ich will dich nie wiedersehen."
"Warum willst du mich denn nie wiedersehen?"
"Weil ich dich nicht mehr vergessen kann, wenn ich dich noch länger ansehe."
Als ich Fruchtgummis aß, rief Loki:
"Oh nein, tu' mir das nicht an!"
Ich gab ihm einige, und er rief:
"Hör' auf, hör' auf!"
Im Laufe des Abends wurde Loki immer betrunkener.
Als das Konzert von Berenices Projekt kurz bevorstand, meldete Tyra:
"Rafa ist hier."
Rafa hatte das "Rotjäckchen" im Schlepptau. Sein Gesicht war mit einer dicken Make-up-Schicht bedeckt. Er trug die schwarze Lokomotivführermütze und eine schwarze Uniformjacke mit Silberknöpfen. Tyra und ich gingen im Gewühl auf ihn zu, wobei ich Rafa an der Schulter streifte. Er begrüßte Tyra freundlich und recht ausführlich. Durch mich sah Rafa hindurch.
Vor dem Merchandize-Stand, hinten rechts im Saal, postierte Rafa sich mit "Rotjäckchen" und setzte seine Spiegelbrille auf. Rafa konnte dabei zusehen, wie Loki mich am Merchandize-Stand umgarnte. Eifersüchtig konnte Rafa dabei eigentlich nicht werden; er betont ja immer wieder, daß er sich nicht für mich interessiert.
Als ich vorne im Publikum stand - das Konzert hatte noch nicht begonnen -, streifte jemand an meinem Rücken entlang und ging auf die Theke zu. Das war Rafa. Er holte zwei Getränke und ging, in jeder Hand eines, zu seinem Platz zurück - dieses Mal vor mir, in größerem Abstand, das brillenbewehrte Gesicht mir zugewandt.
Einer der Veranstalter kam auf die Bühne. Er sagte das Konzert an und fügte hinzu:
"Im Hinblick auf die anwesende Prominenz: Jetzt wissen wir, warum das Konzert von W.E ausgefallen ist!"
Es wurde gekichert und geklatscht. In Wirklichkeit hatte Rafa für heute gar kein Konzert geplant. Der Spruch des Veranstalters war lediglich eine Neckerei.
Zu Berenices Line-up gehörte das Stück "Kalte Liebe", das sich auf die Beziehung von ihr und Rafa bezieht. Der Text handelt vom scheinbaren Glück, das in einer Enttäuschung untergeht. Jedesmal, wenn Tyra sang:
"Deine Liebe, so kalt!"
- zeigte sie mit ausgestrecktem Arm auf Rafa.
Am Ende sang Tyra:
"Meine Liebe, so kalt!"
Als das Konzert gerade vorbei war und Berenice, Tyra und Baryn noch auf der Bühne beim Abbauen waren, marschierte Rafa mit "Rotjäckchen" zum Ausgang.
"Das war wohl zuviel für ihn", dachte ich.
Tyra sah das ähnlich. Sie meinte, wenn das Konzert nichts geworden wäre oder nicht gut angekommen wäre, dann wäre Rafa noch dageblieben und hätte getröstet:
"Das ist immer so am Anfang, das war bei mir auch so!"
Jetzt aber war er zum Publikum degradiert und konnte nur zuschauen, nicht den großen Gönner spielen.
Tyra erzählte, mit voller Absicht habe sie bei dem Vers "Meine Liebe, so kalt!" auf Rafa gezeigt, und ihr sei aufgefallen, daß ich lächeln mußte.
Berenice erzählte, ihr sei mitgeteilt worden, daß Rafa da war. Er sei aber nicht auf sie zugegangen.
Ich meinte, Rafa sei in seinem Verhalten und seinem Lebensstil wahrhaft armselig.
"Armselig, das ist der passende Ausdruck", sagte Berenice.
Nach dem letzten Konzert des Festivals gab es noch Tanz, woran Loki sich nicht beteiligte - trotz seines mehrfach geäußerten Wunsches, mit mir zu tanzen. Vielleicht war er einfach zu betrunken. Berenice, Tyra und ich tanzten jedenfalls.
Gegen halb drei Uhr morgens kam ich in den "Keller", wo es eine nachgeholte Halloween-Party gab. Rafa saß hinten im Tanzraum - ohne Spiegelbrille -, umgeben von dem "Rotjäckchen" und einigen Herren. Sie saßen eng zusammengedrängt in einer Nische. Rafa hielt die gewohnten Volksreden. Ich wollte ihn dabei nicht stören und ging vors DJ-Pult, wo ich mehrere Leute begrüßte. Sie bewunderten die weiße Spitze an meinem schwarzen Lackkleid, die im Schwarzlicht lilablau aufleuchtete. Maylin reparierte mir ein Stück Spitze mit einer Sicherheitsnadel. Der DJ spielte für mich "Lost" von Rotersand. Etwas später lief das ebenfalls sehr tanzbare "Dirtygrrrls/Dirtybois" von Faderhead ("Dirty girls, dirty boys"). Rafa hielt es nicht mehr lange im Tanzraum; er verschwand mit seinem Troß im Schankraum, wo er noch einige Zeit blieb. Ich blieb beim DJ-Pult.
Gegen Morgen, als es im "Keller" leerer wurde, kam Rafa noch einmal in den Tanzraum. Mit einigen Leuten stand er hinten an einem Tisch und blickte in meine Richtung. Er schien sich nur verabschieden zu wollen; er verschwand kurz darauf endgültig.
Zu Allerseelen war ich mit Constri und Denise abends auf dem Friedhof. Wir alle waren mit Leuchtstäbchen verziert. Denise trug ein Collier aus Leuchtstäbchen um den Hals, Constri trug mehrere Armreifen, ich trug Knotennadeln aus Leuchtstäbchen. Denise fand es gruselig auf dem Friedhof und kam nur mit, weil ihr ein großes Eis versprochen wurde. Das gab es im "Labyrinth", wo wir anschließend einkehrten. Dorthin kamen auch Gesa, Sator, Talis und seine Frau Janice. Talis erzählte von seiner Arbeit im Botanischen Garten. Eigentlich habe er einen Traumjob - sicher und ohne übermäßigen Streß. Dennoch gehe ihm öfter die Frage durch den Kopf:
"Und das willst du noch bis zur Rente machen?"
Ihm sei klar, daß jede berufliche Veränderung für ihn ein unkalkulierbares Risiko und zweifelhaften Nutzen mit sich brächte.
Wie Talis geht es auch Sator, der Bahnbeamter ist. Das Gehalt ist mäßig, der Job eher langweilig, aber sicher und ohne übermäßigen Streß.
Wir unterhielten uns über mögliche Veränderungen in der Zukunft, darunter das Abschmelzen der Polkappen:
"H. wird Hafenstadt ... sogar Lagunenstadt. Man parkt die eigene Gondel vor der Tür. Und in der City hat jeder U-Boot-Anschluß."
Wie immer zu Allerheiligen gedachten wir der Toten. Sator erinnerte sich an den Tod seiner Mutter vor zwei Jahren. In seiner Trauer habe er sich durch den Genuß großer Mengen edler Lebkuchen aus N. geholfen. Er habe bestimmt vier oder fünf Pakete bestellt und dann sehr schnell leergegessen. Die Adresse der Lebkuchenfirma hatte ich ihm gegeben. Einerseits ärgerte ihn das, andererseits war er sich im Klaren darüber, daß er zu jener Zeit die Süßwaren gut gebrauchen konnte.
Sator erzählte von einem Verkehrsunfall im September dieses Jahres. Aus Unachtsamkeit fuhr ihm jemand ins Auto, auf der Autobahn, bei hohem Tempo. Sator hatte Glück im Unglück; er trug nur ein Schleudertrauma davon. Ein neues Auto hat er auch schon.
Constri erzählte von Magnus, der sich als Glückspilz betrachtet, obwohl er so schauerliche Erlebnisse hatte wie den Unfall auf der Serpentinenstrecke in Griechenland. Sie bewundert, daß jemand auch in etwas so Schrecklichem noch etwas Positives sehen kann.
Denise zeigte ihre Puppen vom Wohltätigkeitsbasar, denen sie mit Constris Hilfe Kleider genäht hatte. Sie berichtete, daß sie schon mit der ganz dünnen Nadel nähen und sogar einfädeln kann.
Denise aß ihren Kinderteller auf, dann das große Eis, dann legte sie sich neben uns auf der Bank schlafen. Constri deckte sie mit einer Jacke zu. Denise sorgte dafür, daß die Puppen auch zugedeckt waren. Sie steckte sie in ihren Ärmel, so daß nur noch die Köpfe herausschauten.
Constri erzählte später, nach dem Abend im "Labyrinth" habe Denise sie gefragt:
"Warum eigentlich sagt einer von euren Freunden, er sei ein Glückspilz?"
Constri erklärte ihr, daß Magnus stets versucht, in allem das Gute zu sehen, auch in schrecklichen Dingen.
Am Mittwochabend war ich mit Kioran im "Interface". Wir tranken Chai Latte. Kioran erzählte von Eden, dem "kleinen blonden Giftchen", nach dem er sich immer noch verzehrt. Sie sei so gut im Bett.
In einem Traum geriet ich in eine Art Camp, ein militärisches Schulungslager, das sich in einem Betonbau befand, umgeben von bewaldeter Landschaft, an einem Hang gelegen. 38 Leute gehörten zu meiner Gruppe. Ehe ich schlafen gehen durfte, sollte ich einen von ihnen erschießen. Dies wurde mir mit Bestimmtheit aufgetragen, was zwischen den Zeilen hieß, daß ich selbst liquidiert würde, wenn ich es nicht tat. Mir war klar, daß ich es nicht über mich brachte, jemanden zu erschießen, und deshalb niemanden erschießen würde. Mein Leben war verwirkt. Das Einzige, was mich retten konnte, war, daß mein Vorgesetzter vergaß, die Leute in meiner Gruppe durchzuzählen. Noch während ich mir das vor Augen führte, wachte ich auf.
Dieser Traum bezog sich auf die Psychiatrie in Lk. mit dem bösartigen Chef und dem Wald hinterm Klinikgelände, wo es hangaufwärts geht, zu einem Hügelkamm. Ich machte aus dem Traum die verstörende Kurzgeschichte "Achtunddreißig". Träume sind für mich ein Stoff, aus dem Geschichten sind.
Am Samstagabend sah ich ein Konzert von Howard Jones in einem Theater in H. In den achtziger Jahren trat Howard Jones mit elektronischen Arrangements auf. Bei der diesjährigen Tour verwendete er nur ein elektronisches Klavier, außerdem war ein Gitarrist dabei. Auf mich wirkte das etwas karg, sehr schlicht, ähnlich wie ein "Unplugged"-Konzert. Zugleich wirkte es aber auch feierlich, näher an einem Klassik-Konzert als an einem Pop-Konzert. Howard Jones scheint sich mittlerweile vor allem als Pianist zu verstehen. Er hat auch schon Alben mit Klaviermusik herausgebracht, gespielt auf einem Konzertflügel.
Die Stimme von Howard Jones klang noch fast so wie früher. Und er spielte und sang all die Titel, mit denen er damals berühmt geworden ist, zwischen 1983 und 1985. Howard Jones gehört zu denen, deren Musik früher in den Charts die oberen Plätze belegte und heute kaum noch im Radio gespielt wird - sehr zu Unrecht, wie ich finde.
Während ich bei dem Konzert war, war Constri in HB. auf der Geburtstagsfeier von Rufus, der vierzig geworden ist. Vorher besuchte sie Giulietta, und Derek besuchte Folter. Folter hat erzählt, wenn Derek von seiner Tochter Denise spricht, fangen seine Augen an zu leuchten. Wenn Derek Folter besucht, zeigt er ihm lauter Fotos und Videos von Denise.
Die Party von Rufus soll sehr amüsant gewesen sein. Folters Kollege Drees tanzte betrunken herum und machte Annäherungsversuche bei Constri, die ihn jedoch abwies.
Rufus wohnt immer noch mit Geneviève in dem Haus in HB., das die beiden vor Jahren gemeinsam gekauft haben. Es ist die finanziell günstigste Lösung. Rufus und Geneviève sind nicht mehr zusammen, verstehen sich aber noch. Geneviève leidet an Schizophrenie.
Arlissa, die neue Lebensgefährtin von Rufus, war auch auf der Party. Sie lebt in HL. Rufus und Arlissa führen eine Wochenend-Beziehung.
Mitte November fand die Scheidung von Constri und Derek statt. Keiner von beiden schien besonders darauf aus zu sein, sich scheiden zu lassen. Keiner von beiden wirkte besonders fröhlich oder gar erleichtert.
"Ich habe aus Liebe geheiratet und lasse mich wegen Geld scheiden", war Constris Kommentar.
Sie steht finanziell wesentlich besser da, wenn sie nicht mit Derek verheiratet ist. Er hat ihr eher das Geld aus der Tasche gezogen, als welches hineinzulegen. Das hängt auch damit zusammen, daß er es beruflich nie zu etwas Nennenswertem gebracht hat. In seinem erlernten Beruf als Lagerist hat er kaum je gearbeitet. Meistens hat er angelernte Tätigkeiten ausgeübt, die schlecht bezahlt wurden. Zwischendurch war er arbeitslos oder in einer Maßnahme des Arbeitsamts. Er hat oft den Job gewechselt. Was er zur Zeit macht, weiß ich nicht.
In der Samstagnacht waren Constri und ich im "Mute". Revil berichtete freudestrahlend, daß er seit drei Monaten endlich eine Lebensgefährtin hat, Lania. Er sei "auf Wolke 7". Er scheint tatsächlich das große Glück gefunden zu haben, auch wenn die Beziehung erst seit so kurzer Zeit besteht. Die beiden haben sich durch die Arbeit kennengelernt. Lania ist Pflegekraft, Revil ist Physiotherapeut.
Berit erzählte von ihrem Kampf um einen Therapieplatz in der Psychotherapie-Fachklinik in Bad B.
Magenta hat einen neuen Job. Sie muß nicht mehr in der Drogerie arbeiten.
Kappa, Xentrix und Haymo legten heute auf. Xentrix spielte unter anderem "Big man restless" von Kissing the Pink, einen Achtziger-Tanzboden-Hit, den ich sehr mag.
Saaras Schwester Danielle war mit ihrem Ehemann Mike im "Mute". Danielle erzählte voller Mutterstolz, ihre siebenjährige Tochter Gwyneth habe das beste Zeugnis ihrer Klasse erhalten.
Vor dem Eingang des benachbarten "Doomsday" traf ich Aubrey, einen guten alten Freund von Bertine. Aubrey erkundigte sich, wie es Bertine geht und ob sie noch mit Hakon verheiratet und in ihrer Ehe glücklich ist. Das bestätigte ich. Aubrey hatte für mehr als anderthalb Jahre keinen Kontakt mehr zu Bertine. Ich empfahl ihm, sie anzurufen; ihre Nummer sei noch dieselbe. Allerdings müsse er wissen, daß sie vor einem Jahr einen Trauerfall hatte:
"Sie hatte ein Kind, das ist schon nach neun Wochen gestorben. Darüber ist sie noch lange nicht hinweg, auch Hakon nicht."
Aubrey meinte, dann werde er lieber erstmal nicht anrufen. Ich entgegnete, ich sei sicher, daß Bertine sich über seinen Anruf freuen würde.
Constri fuhr nach Hause, ich fuhr zum "Roundhouse". Marvel spielte ein Elektro-Industrial-Stück nach dem anderen. Wäre das noch ein paar Stunden so weitergegangen, hätte ich mich wohl zu Tode getanzt.
In der Samstagnacht waren Constri und ich in BI. auf der legendären "Low Frequency"-Party. Dort ging es mit ultraharten elektronischen Rhythmen weiter. Allerdings gab es auch abgeklärtere Stücke, so daß Zeit für Pausen blieb. Wir trafen viele unserer Bekannten. Auch Heloise, Barnet und Joujou waren da. Joujou hatte die Sorge gehabt, ihren Job bei einem Software-Konzern zu verlieren, hat nun aber einen Jahresvertrag bekommen.
Constri, Barnet und ich saßen eine Weile an einem Tischchen in der Lounge. Barnet erzählte, daß seine Tochter Felicity nach dem Ende ihrer ersten Beziehung wieder einen Freund hat. Er heißt Kelvin, und Barnet kann ihn nicht leiden. Das hat Gründe. Kelvin verwendet Felicity als Geliebte. Er hat eine Freundin, will sich von der aber nicht trennen und auch Felicity nicht aufgeben. Barnet hofft, daß Felicity die Kraft finden wird, sich von Kelvin zu trennen, und zwar bald.
Felicity soll ansonsten in letzter Zeit auffällig brav sein. Barnet vermutet, das habe mit ihrem herannahenden achtzehnten Geburtstag zu tun und mit ihrer Hoffnung, dann von Barnet das erste eigene Auto geschenkt zu bekommen. Sie wollte zuerst am liebsten einen rosafarbenen Smart. Barnet führte ihr vor Augen, daß sie in einem Smart nicht mit einer Gruppe unterwegs sein kann. Da wollte sie dann doch lieber ein Auto mit mehr Sitzen. Barnet hat schon einen gut erhaltenen Gebrauchtwagen für Felicity ausgeguckt - in Schwarz. Ein rosafarbenes Auto läßt sich schlecht weiterverkaufen, weil Rosa nicht jedermanns Sache ist.
Gegen ein Uhr nachts gingen die Thekenkräfte durchs Gedränge mit großen Rundtabletts voller Mini-Schaumküsse, die kostenlos verteilt wurden, als kleine Stärkung. Wir ergatterten auch welche.
Dieser besondere Service gehört zu den Dingen, die mir an "Low Frequency" so gefallen. Das hat Stil, finde ich - wie die Obstkörbe im "Zone" und die Snack-Schalen im "Roundhouse".
Am Sonntagabend war ich bei meiner Schulfreundin Odette in Awb. Sie hatte ihren leckeren Steckrüben-Eintopf gezaubert, passend zur Jahreszeit. Ihr zweijähriger Sohn Darren ist ein munteres, fröhliches Kind. Er ist der Sonnenschein von Odettes Vater, der im Vorderhaus des Anwesens wohnt.
Odette berichtete, daß ihr Mann Quentin den Schreibwarenladen in den Ruin gewirtschaftet hat, den sie in H. betrieben haben. Quentin könne einfach nicht rechnen. Er müsse sich nun eine Anstellung suchen.
Odette und ich riefen unseren alten Bekannten Sven an und gratulierten ihm nachträglich zum Geburtstag. Sven lebt immer noch in der Wohnung in Bu., wo er sich seit vielen Jahren wohlfühlt, und kann mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren, die ebenfalls seit vielen Jahren dieselbe ist. Das Gleichbleibende hat für Sven etwas Beruhigendes. Er ist nicht verheiratet, hat aber seit vielen Jahren eine Liaison mit Susa. Odette ist seit Jahrzehnten mit Susa und ihrer Familie befreundet und hat Susas Kinder gehütet, als sie noch klein waren. Susas Ehemann Guy ist nicht der Vater der Kinder, sie stammen aus einer früheren Beziehung von Susa. Ob der treusorgende Guy weiß, daß seine Frau fremdgeht, ist unklar. Der brave Guy erinnert mich ein wenig an Jules, den Ehemann meiner Kollegin Lana. Jules hat alle Eskapaden seiner Frau toleriert und ist letztlich derjenige, zu dem sie immer wieder zurückgekehrt ist.
Am Donnerstag war ich im "Keller" zum Rippchenessen. Lucerna bediente und verteilte Prospekte einer Kerzenfirma. Lucerna macht mit Kerzen das, was "Tupper-Damen" mit Küchenartikeln machen. Sie tritt als "Kerzen-Dame" bei Kerzenparties auf. Wir vereinbarten, daß auch bei mir eine solche Party stattfinden soll, nachmittags und im Rahmen eines Kaffeekränzchens. Lucerna erzählte, bei Ceno habe eine solche Party abends stattgefunden. Es sei sehr lustig gewesen. Ceno habe nach der Kerzen-Präsentation mit ein paar Übriggebliebenen bis morgens um vier Uhr weitergefeiert.
Ceno war heute auch im "Keller". Er lebt nicht mehr in dem baufälligen Haus, das ich noch kannte, sondern in einer Mietwohnung. Er hat Kontakt zu seinem Sohn. Neulich hat er seine Hündin Pixie wiedergesehen. Bibian hat Pixie vor einiger Zeit übernommen. Ceno trank heute Tee statt Alkohol, ein ungewohntes Bild.
Ceno erzählte von der Trennung von seiner letzten Freundin. Sie habe immerzu mit ihm gestritten, das habe er irgendwann nicht mehr ertragen können. Die beiden waren nicht sehr lange zusammen.
Weil Highscore für Rafa Feuerwerkskörper besorgt hat, durfte er kostenlos zu dem Konzert, das Rafa Anfang November mit W.E im "Zone" gab. Highscore stand vorne, vor der Bühne. Neben ihm stand das "Rotjäckchen". Auf der Bühne standen Rafa, Dolf, Darienne und Lucy.
"An Darienne ist ja nichts dran", mißbilligte Highscore die dürre Figur. "Lucy, die ist normal."
Darienne betont immer wieder im Internet, wie stolz sie auf ihre Magerkeit ist.
Fünf Minuten nach dem Ende des W.E-Konzerts rief Highscore Rafa auf dessen Handy an und bat ihn, herunterzukommen, denn er habe jemanden mitgebracht, der ein Autogramm wollte. Rafa kam gleich herbei, und als er das Autogramm gab, kamen noch viele andere Leute, die Autogramme wollten.
"Bin ich froh, daß ich nicht da war", seufzte ich. "Das Theater hätte ich mir nicht ansehen wollen."
Rafa soll das "Rotjäckchen" im Sommer als neue Freundin präsentiert haben, außerdem hat er sie im September im "Keller" angebalzt - das war es allerdings auch schon. Im Internet wird das "Rotjäckchen" nirgends als seine Partnerin dargestellt, auch nicht auf Fotos. Im "Zone" soll ebenfalls nicht erkennbar gewesen sein, daß Rafa und das "Rotjäckchen" ein Paar sind.
Highscore erzählte von der elektronischen Schnitzeljagd "Geocaching". Im Rahmen einer solchen Schnitzeljagd ist er auf ein verlassenes Kasernengelände in H. gelangt und konnte mir dieses nun als "Lost Place"-Geheimtip nennen, wo man interessante Fotos machen kann.
Highscore erzählte, welche Waffen er erwerben darf, wenn er den Sportschützenschein hat. Er darf mehrere Langwaffen, einige Pistolen und eine halbautomatische Pistole erwerben. Er muß sich dann einen Waffenschrank zulegen.
Maschinengewehre und Maschinenpistolen gelten als Kriegswaffen, ebenso Handgranaten; ihr Besitz ist dem Militär vorbehalten.
Gegen halb zwei Uhr morgens traf ich Anwar im Schankraum. Er fragte, ob ich ihn mitnehmen konnte.
"Willst du nach H.?" erkundigte ich mich.
Anwar erklärte, daß das Haus, wo er lebt, sich auf meinem Weg nach H. befindet. Ich nahm ihn mit. Er bestaunte den Mercedes und bat mich, die Lüftung noch nicht hochzudrehen, damit er dem Motor lauschen konnte. Das tat er denn auch andächtig. Vor allem staunte Anwar, weil das Auto mit dem ersten Motor bereits mehr als 600.000 Kilometer gefahren ist.
Anwar zeigte sich nett, aufmerksam und höflich. Das Wort "Rafa" fiel in unserem Gespräch nicht, und ich vermied es auch sorgsam. Ich denke, es ist ein Reizwort für Anwar. Ähnlich wie einst Dolf muß Anwar Rafa dabei zusehen, wie er ein Mädchen nach dem anderen um den Finger wickelt.
Am Schwarzen Brett in der Kantine in Lk. hängt neuerdings ein Zettel, der auch an anderen Schwarzen Brettern aufgehängt wurde und die Überschrift trägt:
"Hallo, ich bin es - Euer 'Oskar'!"
Es gibt Fotos zu sehen von einem weißen Kater mit wenigen schwarzen Flecken. Das niedliche Tier hielt sich im Sommer häufig in der Nähe der Klinikpforte auf und begrüßte morgens die Mitarbeiter. Wenn es regnete, saß der Kater manchmal ordentlich zusammengefaltet unter einem Papierkorb im Trockenen. Es ist ein zutraulicher Kater, an Menschen gewöhnt. Mittlerweile hat das Tier ein liebevolles Zuhause gefunden. Auf dem Zettel am Schwarzen Brett erzählt das neue Frauchen - eine Schwester aus der psychiatrischen Ambulanz -, wie sie den Kater zu sich genommen hat. Sie gab ihm den Namen "Oskar", ging mit ihm zum Tierarzt und richtete ihm bei sich daheim ein Plätzchen. Die Fotos auf dem Zettel zeigen den Kater in seinem neuen Heim und in seinem bisherigen Umfeld an der Klinikpforte. Unten steht eine Danksagung an alle, die dem Kater Futter gegeben und sich um ihn gekümmert haben, als er noch ein Streuner war.
In der Kantine unterhielt ich mich mit dem Sozialarbeiter Artus über Suchtkrankheiten. Artus meinte, wer sein Leben lang nur in süchtigen Strukturen gelebt habe, könne sich ein abstinentes Leben nicht vorstellen und es daher auch nicht als erstrebenswert betrachten. So komme es, daß viele Raucher ihre Nikotinabhängigkeit verteidigen mit Argumenten wie:
"Soll ich mich denn an gar nichts mehr freuen können?"
- oder:
"Sterben müssen wir alle mal, und ich will vor dem Sterben gelebt haben."
Sie reagieren geradezu empört, wenn man ihnen rät, das Rauchen aufzugeben. Das Suchtmittel wird als wichtigster oder gar einziger Lebensinhalt wahrgenommen. Die Süchtigen können sich nicht vorstellen, daß ein Leben ohne Suchtmittel erfüllt und glücklich sein kann.
Ende November waren Merle und ich in der Innenstadt unterwegs. Auf dem Opernplatz trafen wir Elaine und Jacy. Die beiden Mädchen übten japanische Kampftechniken. Jacy war mit ihrer Geburtstagsgesellschaft da. Außer Elaine waren das noch vier weitere Mädchen in Manga-Kostümen. Jacy war am Vortag fünfzehn Jahre alt geworden. Elaine war mit ihren dreizehn Jahren die Jüngste in der Gruppe. Primrose, Amethyst und Luciana sind vierzehn. Liliana, die viele Fotos machte, ist achtzehn. Jacy ging im angesagten Schottenkaro, mit Faltenmini. Elaine trug eine blaue Perücke, Primrose trug eine rosafarbene Perücke. Luciana trug plüschige Häschenohren. Die große, schlanke Amethyst trug ein schwarzes Minikleid mit Corsage und dazu eine violette Strumpfhose. Die Mädchen hatten sich mit viel Kajal und viel Aufwand geschminkt. Eben waren sie durch die neu eröffnete Shopping Mall am Hauptbahnhof gebummelt. Dort gibt es Sushi zum Taschengeldpreis. Im Opernhaus holte ich Karten für das Ballett "Cinderella", das Elaine, Constri und ich uns Mitte Januar ansehen wollen. Danach gingen Merle und ich mit allen Mädchen ins "Rondo", wo ich eine Runde Kaffee ausgab. Die Mädchen fotografierten sich gegenseitig in verschiedenen Posen. Elaine war schon mit drei Jahren Manga-Fan. Damals gab es im Fernsehen die Zeichentrickserie "Sailor Moon". Merle bastelte für ihre Tochter zum Kindergarten-Fasching ein "Sailor Moon"-Kostüm.
Dieses Jahr im Herbst waren Merle, Elaine und Jacy in KS. auf einer großen Anime-Convention. Nächstes Frühjahr wollen sie nach L. zur Buchmesse fahren, wo es einen Anime-Bereich geben wird. Dort treffen sich viele "Cosplayer", die sich wie Manga-Figuren zurechtmachen.
An unserem Tisch im "Rondo" legten die Mädchen ein Handy in die Mitte und spielten japanische Manga-Popsongs ab. Sie alle haben Lieblings-Tracks und Lieblings-Figuren: einmal die, die sie im "Cosplay" verkörpern, und einmal die Zeichentrick-Jungs, für die sie schwärmen.
Für Elaine ist die Anime-Welt ein willkommenes Parallel-Universum, das von Problemen im echten Leben ablenkt. Sie erzählte, daß sie auf der Realschule unglücklich ist und lieber auf die IGS gehen würde. Das ist nun in Vorbereitung.
Nachts war ich im "Alien", einer Location in BI., wo es eine Industrial-Party gab mit einem Live-Set der Band 100 Blumen. Mich empfing allgemeine Rhythmus-Versunkenheit auf der Tanzfläche, in die ich mich gleich einreihte. Allerdings fand ich die Tanzfläche deutlich zu klein. Zu den Highlights gehörten - außer dem Live-Set - "Animal Cannibal" von Tumor und "Headcase" von Terrorfakt.
Meine Schulfreundin Mariposa antwortete nach einem halben Jahr auf meine letzte E-Mail und erzählte von ihren Sorgen wegen ihres Lebensgefährten Remo, von dem sie sich gerade trennt:
Die Zeiten bleiben turbulent, da Remo einen Anwalt eingeschaltet hat, um mich rauszuklagen, d. h. ich muss eine Wohnung für Amina und mich finden, einrichten und umziehen ...
Sie will die gemeinsame Tochter Amina mitnehmen, wenn sie Remo verläßt.
Mit Evan aus KI. unterhielt ich mich in E-Mails über Backideen für die diesjährigen Katastrophenkekse. Auch Evans Kumpel Mika beteiligte sich, mit den Vorschlägen "Nikkeier Sturzplätzchen" und "W-Keks". Erstere beziehen sich auf Aktienkurse, Letztere auf den Noch-US-Präsidenten.
"Keep Backing", schrieb Mika.
Mit Layana unterhielt ich mich in E-Mails über eine Radio-Comedy-Serie, in der es um Alltagsgegenstände ging, die als Kunstwerke dargestellt wurden, darunter ein Werkzeugkasten und ein Parkhauspfeiler.
Layana schrieb:
Anscheinend leben wir inmitten von Kunstwerken, richtige Betrachtung vorausgesetzt ;)
Ich stell mir gerade vor, wie ein Aktionskünstler durch gezieltes Anfahren eine Parkplatzsäule gestaltet, und was dabei wohl herauskommen würde ...
In der Freitagnacht war ich im "Roundhouse". Barnet und Heloise brachten Felicity und eine ihrer Freundinnen mit. Kelvin hat sich noch immer nicht entschieden, ob er mit seiner jetzigen Freundin zusammenbleiben will oder sich für Felicity von ihr trennen will. Heute wollte Kelvin in HI. feiern gehen und später ins "Roundhouse" nachkommen. Felicity blickte immer wieder auf ihr Handy, weil sie auf eine Nachricht von ihm wartete. Gegen drei Uhr nachts meldete er sich tatsächlich und simste, er sei jetzt auf dem Parkplatz eines Autohändlers, gegenüber vom "Roundhouse", und erwarte Felicity dort. Felicity und ihre Freundin gingen hinaus ins gruselige Dunkel des Parkplatzes.
"Der kann morgen was erleben", kündigte Barnet an. "Der soll mir bloß unter die Augen kommen."
Das DJ-Set nahm erst gegen vier Uhr Fahrt auf. Marvel war durch einen Co-DJ ein wenig ausgebremst worden. Er spielte aber noch einige rasante Stücke, darunter "Mechanomatica" von Hypnoskull und "Terror against" von Punch Inc.
Als eine der Letzten verließ ich das "Roundhouse". Einer der Herren an der Pforte reichte mir eine Freikarte und sagte:
"Hier, für deinen Feentanz eben. War ja echt phänomenal."
Ich dankte artig und erklärte, eben dies komme mir jetzt recht. Ich hatte vergessen, Marvel nach neuen Freikarten zu fragen.
Auf der A2 rettete ich einen Fuchs, weil ich langsam genug fuhr, um rechtzeitig zu bremsen.
Am Nikolaustag war ich mit Denise, Constri und meiner Mutter beim Krabbelgottesdienst. Denise ist mit ihren fünf Jahren eigentlich schon fast zu alt dafür, es ist aber immer wieder eine niedliche Veranstaltung.
Die Plüsch-Kirchenmaus erzählte den Kindern, daß der heilige Nikolaus ein türkischer Bischof war und daß er armen Leuten geholfen hat, indem er große Teile des Kirchenschatzes weggab. Nach dem Vortrag der Kirchenmaus gab es, wie meistens, eine Bastelrunde. Denise bastelte dieses Mal selbständig. In den Jahren zuvor wollte sie nichts ohne Constri machen.
Abends gab Ray seine Geburtstagsparty in seiner Ein-Zimmer-Wohnung. Er lebt in einem siebenstöckigen Hochhaus am Stadtrand. Die benachbarte Wohnung ist frei geworden. Derek will dort einziehen, weil die Wohnung so günstig ist. Dereks Lebensgefährtin Juno will nicht mitkommen, sie zieht zu ihrer Familie. Derek und Juno sind aber noch zusammen.
Als das Gespräch auf den frühen Tod von Dereks Mutter kam, bat ich Derek, das Rauchen aufzugeben:
"Tu' deiner Tochter den Gefallen."
"Hab' doch schon reduziert", behauptete Derek. "Denise lenkt mich doch immer ab. Wenn ich auf den Balkon 'rauswill, ruft sie immer Sachen wie:
'Kannst du mir nochmal diese DVD 'raussuchen? Hast du diese CD für mich?'
Da komme ich gar nicht dazu, auf den Balkon zu gehen."
"Tja", meinte Constri, "sie weiß eben, daß du nicht auf den Balkon gehst, um dir H. von oben anzusehen."
Denise nickte wissend.
Terry erzählte, daß Linus sich nach wie vor fast nur bei "Second Life" aufhält, einem Internet-Paradies mit grell türkisblauem Meer, endlosem Sonnenschein und kitschig-schönen Avataren. Abgesehen von der Arbeit, findet für Linus das Leben nur noch virtuell statt. Terry und Linus waren jahrelang ein Paar. Als Linus sich zwischen Terry und "Second Life" entscheiden sollte, entschied er sich für "Second Life". Terry und Linus leben noch immer zusammen, aber nur als WG.
Am Sonntag gab ich das diesjährige Adventskränzchen, eine große Kaffeerunde. Sarolyn hatte ihren Jüngsten als Nikolaus verkleidet. Die neueste Katastrophen-Keks-Kollektion wurde vorgestellt, bunt verzierte Mürbeplätzchen. Es gab "A2 Bus Stops" oder "Haltestelle zum Jenseits", zum Gedenken an die Opfer eines Busbrandes auf der A2 im November; "Schneedächlein", zum Gedenken an die Besucher einer Eissporthalle, die ums Leben kamen, als das Dach unter der winterlichen Schneelast einstürzte; "Kaninchen auf der A2", zum Gedenken an die vielen Tiere, die auf den Autobahnen ums Leben kommen; "Nikkeier Sturzplätzle" ("Fallende Aktienkekse"), die sich auf die krummen Geschäfte der Banken und deren Folgen beziehen - die Kekse sind eine Erfindung von Evans Freund Mika -, "W-Kekse", bezogen auf den scheidenden US-Präsidenten George W. Bush, der in seinem Amt als Katastrophe betrachtet werden kann -, auch diese Kekse sind eine Erfindung von Mika. Außerdem gab es "Gebrochene Herzen", das waren von Terry "handgebrochene" Schokoladenherzen. Diese Kreation bezieht sich auf Schürzenjäger, von denen wir einige kennen.
Passend zu den Katastrophen-Keksen, gab es in der Kaffeerunde nicht nur weihnachtliche Themen. Wir unterhielten uns über Bausünden wie den monströsen "Uferpark", einen Beton-Koloß in Lnd., der in der Euphorie der siebziger Jahre als Wohnform der Zukunft gepriesen wurde, als "Wohnen im Grünen".
"Stattdessen ist es ein 'Wohnen im Grauen'", meinte ich.
Das kann man wörtlich nehmen, im doppelten Sinne.
Als es Abend wurde, kam die Frage auf:
"Kann es sein, daß Domino und Bastet die Gäste verspeisen? Sie sind so gut genährt, und es fehlen immer mehr Gäste."
Meine Katzen Domino und Bastet sind ziemlich riesig geworden, seit sie kastriert wurden. Auf Parties und Kränzchen lassen sie sich erst sehen, wenn die meisten Gäste wieder weg sind. Die Katzen verkriechen sich im Hinterzimmer, wenn Hochbetrieb herrscht.
"Es ist doch toll, daß ich ein Mädchen geworden bin", sagte Denise zu Constri, "da kann ich immer zum Damenkränzchen."
Sie meinte:
"Damenkränzchen sind schön, da kann ich immer Zuckerwürfel naschen."
In mehreren Musikzeitschriften gibt es neue Interviews mit Rafa. In einem der Interviews behauptet Rafa:
Dinge wie Treue, Konsequenz und Ehre sind schon immer Sachen gewesen, unter deren Wörtern im Duden ganzseitig ein Photo von uns zu finden ist.
"Uns" - das soll die Band W.E sein. Rafa will anscheinend so tun, als sei W.E eine wirkliche Band, bestehend aus vier Musikern, die alle am kreativen Prozeß beteiligt sind und Entscheidungen gemeinsam treffen. Rafa vertuscht, daß es sich bei W.E in Wahrheit um ein streng hierarchisches Gebilde handelt, in dem er der Einzige ist, der die Musik macht und alle Entscheidungen trifft. Eigentlich hätte Rafa in dem Interview "mir" sagen müssen statt "uns".
Begriffe wie "Treue" und "Ehre" klingen aus Rafas Mund wie blanker Hohn, wenn man sein Verhalten betrachtet. Er betrügt seine Freundinnen seit dem Teenageralter, mißhandelt einige von ihnen, hat Berenice sogar mindestens zweimal lebensbedrohliche Verletzungen zugefügt - was vor Gericht zu einer Haftstrafe geführt haben dürfte, wenn Rafa angezeigt worden wäre. Nur weil Rafa bisher immer an Frauen geraten ist, die seine Gewalttaten nicht zur Anzeige gebracht haben, ist er noch nicht vorbestraft. Zumindest ist mir nicht bekannt, daß Rafa jemals für seine Gewalttätigkeit zur Rechenschaft gezogen worden wäre.
Der Begriff "Konsequenz" freilich ist auf Rafa durchaus anwendbar: Konsequent unzuverlässig, verantwortungslos, untreu.
In meinem Profil bei der Online-Szene-Kontaktbörse stellte ich das Zitat von Rafa, indem er sich als außergewöhnlich treu, konsequent und ehrlich beschreibt, in die Rubrik "Ich hasse / mag nicht" und kommentierte:
Der Mann, der das von sich gegeben hat, betrügt seine Freundinnen und schlägt sie halbtot.
Rafas Namen nannte ich nicht. Man kann nur erkennen, wer gemeint ist, wenn man das W.E-Interview präsent hat, und das dürfte bei kaum jemandem der Fall sein. Vermutlich ist Rafa der Einzige, der dieses Zitat wiedererkennen kann. Falls er jemals auf meinem Profil unterwegs sein sollte, hätte er zumindest die Möglichkeit, zu lesen, wie ich über sein Verhalten denke.
Gerne würde ich mit Rafa über sein Verhältnis zu Gewalt sprechen. Das wird mir aber wohl nie möglich sein, weil Rafa die einzige Waffe einsetzt, die er gegen mich zur Verfügung hat: Vermeidung.
Bei der Online-Szene-Kontaktbörse hat Rafa sich mit einer gewissen "Frl. Schlaflos" verlinkt. Das "Frl." könnte sie Rafa zuliebe gewählt haben. Rafa scheint die Anrede "Fräulein" zu mögen, vielleicht weil sie Frauen unbedarft wirken läßt, devot, unterlegen. "Frl. Schlaflos" erklärt in ihrem Profil, schlaflos zu sein und sich deshalb so zu nennen. Bei "Frl. Schlaflos" handelt es sich zweifelsfrei um das "Rotjäckchen". Ihr richtiger Name ist Sarena. Sie hat Ende Februar ihren zwanzigsten Geburtstag gefeiert und ist damit ungefähr siebzehn Jahre jünger als Rafa. Sie gibt an, sie habe die Mittlere Reife und "eine abgeschlossene Berufsausbildung". Ihr Beruf sei "Marketing Communications Coordinator". Das läßt sich als Berufsbild schwer definieren. Eine akademische Ausbildung hat Sarena jedenfalls nicht, also nichts, was sie über Rafa stellen könnte, außer - vielleicht - einer geregelten Arbeit.
Sarena schwärmt auf ihrem Profil, sie sei "verliebt, und zwar nicht nur in die Liebe". Außerdem sei sie "vergeben" und "glücklich!". Sarena erwähnt allerdings nicht, mit wem sie zusammen ist. Rafa verschweigt seine Beziehung mit ihr vollständig. Er bezeichnet sich in seinem Profil nicht als "vergeben", sondern lediglich als "verliebt".
Sarena scheint allen Ehrgeiz aufzubieten, um Rafa zu gefallen. Zu der Frage, wie sie am liebsten ihre Samstagabende verbringt, schreibt sie:
Waschen, Kochen, Putzen und Backen und wenn mir mal langweilig wird, auch gern mal ein paar Wäschehaufen bügeln.
Das kommt Rafas reaktionär-patriarchalischem Rollenverständnis entgegen. Rafa lebt in einem Fünfziger-Jahre-Schlagerkosmos, in den Sarena sich willig einfügt.
Über ihre "Wunschbeziehung" schreibt Sarena, die solle sein "wie im Traum". Sehr wichtig sei ihr "Treue". Außerdem erwarte sie von einem Partner "Loyalität und Vertrauen" - also etwas, das Rafa zur Schau trägt, aber niemals bietet - wobei er allerdings großen Wert darauf legt, als "loyal" und "treu" zu gelten.
Sarena schreibt, ihr Partner solle auf keinen Fall unehrlich sein. Wenn sie eines Tages Rafas Verlogenheit erkennt, hat sie immer noch die Möglichkeit, sich selbst vorzulügen, er sei ehrlich.
Sarena schreibt, sie sei stolz "auf mich und die ehrlichen und loyalen Menschen, die ich kenne". Ich frage mich, ob sie die Wahrheit über Rafa jemals an sich heranlassen wird.
Sarena erwartet vom Leben "Vollkommenheit". Ich frage mich, wie lange sie sich an Rafas Seite Vollkommenheit vorgaukeln kann.
Als Lieblingsband nennt Sarena erwartungsgemäß W.E, außerdem "ganz viel 80er". Man bedenke, daß sie 1990 gerade einmal zwei Jahre alt war.
Sarena lebt in der Nähe von S. und nennt als Lieblings-Reiseziel "520 km", das ist vermutlich die Luftlinie zu Rafas Behausung. Auch "Glück" sei für sie "520 km". Sie wohne "nicht da, wo ich hingehöre". Zu "Fernbeziehungen" schreibt Sarena, die seien "bis 500 km ok", und eben dasselbe schreibt Rafa in seinem Profil. Das ist es aber auch gewesen mit Hinweisen auf seine Beziehung mit Sarena. Er hat nicht einmal in ihr Gästebuch geschrieben.
Rafa und Sarena rauchen beide, also muß er nicht befürchten, daß sie versuchen könnte, ihn vom Rauchen abzubringen.
Sarena zeigt in ihrem Profil etliche Fotos, auch eines, auf dem sie mit einem Mann zu sehen ist, aber keines, auf dem Rafa zu sehen ist - und schon gar kein Foto, auf dem Sarena gemeinsam mit Rafa zu sehen ist.
Rafa vermeidet es seit dem Beginn seiner Bühnen-Existenz, einer größeren Öffentlichkeit eine Partnerin zu präsentieren. Vielleicht will er als verfügbar gelten und seinen Verehrerinnen Hoffnungen machen können. Vielleicht geht es ihm auch darum, sich niemals offiziell auf eine Beziehung festzulegen und die damit verbundene Verantwortung zu übernehmen. Außerdem dürfte es für ihn einfacher sein, immer neue Mädchen zu aquirieren, wenn nicht öffentlich bekannt ist, daß er eine Partnerin hat.
Viele Mädchen in der Online-Szene-Kontaktbörse wurden bereits von Rafa in Dessous fotografiert. Die Mädchen zeigen diese Fotos auf ihren Profilen und erwähnen stolz, daß Rafa die Fotos gemacht hat. Es braucht wenig Phantasie und lediglich grobe Kenntnisse von Rafas Paarungsverhalten, um sich ausrechnen zu können, daß es in vielen Fällen nicht bei Fotos geblieben ist.
Artemis glüht in der Online-Szene-Kontaktbörse vor Verehrung für Rafas Band W.E und bezeichnet ihre Vitrine mit W.E-Fanartikeln gar als:
Mein Heiligtum, mein ganzer Stolz, mein Leben!
Sie könne nicht mehr leben ohne W.E, und SHG. - wo Rafa wohnt - benennt sie als eine ihrer Lieblingsstädte.
Zu der Frage "Ich mag / liebe" schreibt Artemis unter anderem:
Sarena! :-)
Sie scheint nicht nur Rafa, sondern auch Sarena anzuhimmeln. Zugleich scheint sie in Rafa verliebt zu sein. Was dabei ihre Wünsche und Ziele sind, bleibt unklar. Wenn Artemis an Rafa interessiert ist, wäre es unlogisch, daß sie dessen Partnerin verehrt.
Artemis zeigt auf ihrem Profil ein Foto, auf dem Rafa lächelnd den Arm um sie legt und sie an sich drückt. Von Rafa und Sarena gibt es solche Fotos bisher weder im Internet noch in anderen Medien.
Auf einem Foto in Artemis' Profil ist Sarena zu sehen, wie sie Artemis auf die Wange küßt. Darunter steht:
Sarena! :) 3>!
Vielleicht kann Sarena sich nicht vorstellen, daß Artemis ein ernsthaftes Interesse an Rafa haben könnte.
Ein Foto zeigt Artemis im schwarzen Unterkleid auf einem Bett liegend, sich lasziv räkelnd - aus einer Fotoserie von Rafa. Vielleicht weiß Sarena nicht, daß Rafa dieses Foto gemacht hat.
In dem sozialen Netzwerk "Leerzeichen", das zur Zeit sehr angesagt ist, hat auch Sarena ein Profil. Auf ihrem Profilbild steht sie vor einem Poster von Audrey Hepburn und versucht, sie zu imitieren. Das mißlingt, weil Sarenas Gesicht völlig anders geschnitten ist als das von Audrey Hepburn. Ihre Stimmung beschreibt Sarena als "verliebt" und hat drei rosa Herzchen dazugestellt - schülerhaft, passend zu ihrem Alter.
An Berenice mailte ich:
Das Mädchen, das Rafa neuerdings herumführt und mal mehr, mal weniger als seine Freundin bezeichnet, nennt sich in der Online-Szene-Kontaktbörse "Frl. Schlaflos", heißt in Wirklichkeit Sarena, ist 20 Jahre alt (für Rafa eigentlich schon zu alt, er will ja nur welche, die unter 20 sind), und sie fällt komplett auf ihn herein, hält ihn für "treu" und "loyal", was wohl auf ihr geringes Alter und ihr fehlendes Wissen zurückzuführen ist (kein Wunder, sie wohnt bei S., weit genug weg, um von Rafas sonstigen Frauengeschichten nichts mitzubekommen). Er wird ihr gegenüber behaupten, daß er die Frauen, die ihre Dessous-Fotos stolz präsentieren, wirklich nur fotografiert hat.
Rafas Konzert in HF. habe ich mir jedenfalls nicht angetan. "Frl. Schlaflos" alias Sarena war (natürlich) da, sie stand neben Highscore. Auf der Bühne standen außer Rafa und Dolf wie sonst auch Darienne und Lucy. Daß Rafa Darienne überhaupt noch in der Band halten kann, das kann ich mir nur so erklären, daß er immer noch etwas mit ihr hat. In der Online-Szene-Kontaktbörse bezeichnet sie sich seit Neuestem übrigens als "asexuell".
Ginger berichtete am Telefon, daß ihr Noch-Ehemann Tyce sich in psychiatrische Behandlung begeben hat. Er scheint ein gewisses Problembewußtsein entwickelt zu haben.
Am Dienstagabend war ich mit Sator im "Interface". Sator erzählte von seiner Partnersuche. Er wünscht sich eine Partnerin, die zehn Jahre jünger ist als er.
"Warum gestehst du ihr nicht zu, dasselbe Alter und dieselbe Lebenserfahrung zu haben wie du?" fragte ich.
"Ach, Frauen in dem Alter, das ist nichts", behauptete Sator.
"Ich bin das beste Gegenbeispiel", erwiderte ich. "Außerdem kommt es nicht auf das kalendarische Alter an. Es kommt auf den Menschen an. Wenn du die große Liebe suchst, solltest du nicht nach einer Frau mit bestimmten Eigenschaften suchen, sondern nach einem Individuum."
Das konnte Sator nicht nachvollziehen.
Am Mittwochabend war ich bei meiner Schulfreundin Mariposa, die in einem idyllischen Einfamilienhaus lebt. Die Idylle bricht nach allen Seiten auseinander. Das einzige Heile, Verläßliche in dem Haus ist die Beziehung zwischen Mariposa und ihrer Tochter Amina.
Mariposa war sechs Jahre lang mit ihrem bisherigen Lebensgefährten Remo liiert und wohnt noch in seinem Haus, will aber bald mit Amina ausziehen. Sie hat sich im Frühjahr von Remo getrennt. Sie erzählte, daß Remo das Haus Anfang der achtziger Jahre gemeinsam mit seinem Vater, einem Architekten, entworfen und gebaut hat. 1990 heiratete Remo. Aus der Ehe gibt es zwei Töchter, siebzehn und vierzehn Jahre alt. Remos Frau starb 2003 an Krebs. Sie soll sehr herrisch und ichbezogen gewesen sein. Remo sei nachgiebig, passiv, dabei aber auch verantwortungslos. Er habe seinen Töchtern immer alles durchgehen lassen. Auch als Mariposa von den Mädchen angefeindet wurde, habe er Mariposa nicht verteidigt und die Töchter gewähren lassen. Remos vierzehnjährige Tochter habe sogar in einem Brief gedroht, ihre kleine Halbschwester Amina umzubringen, damit Mariposa ins Irrenhaus käme. Remo habe auch danach nichts gegen den Haß und die Eifersucht seiner Töchter aus erster Ehe unternommen, im Gegenteil - er habe Mariposa vorgeworfen, sie sei es, die den Familienfrieden gefährde. Als er im Laufe dieses Jahres begonnen habe, heimlich Kontakte zu anderen Frauen aufzunehmen, habe Mariposa ihn aus dem gemeinsamen Schlafzimmer gewiesen und beschlossen, kurzfristig auszuziehen.
Remo ist selbständig als Elektroinstallateur. Er konnte das Haus nach dem Tod seiner Frau nur halten, weil Mariposa in ihrem Job als Wirtschaftsassistentin gut verdient und das meiste von ihrem Gehalt in das Haus gesteckt hat. Wenn Mariposa ausgezogen ist, wird Remo das idyllische Eigenheim wahrscheinlich verlieren - es sei denn, er findet kurzfristig eine neue Lebensgefährtin, die bereit ist, die Anfeindungen seiner älteren Töchter zu ertragen und das meiste von ihrem Gehalt in das Haus zu stecken.
Mariposa will das alleinige Sorgerecht für Amina erwirken und dem Kind vierzehntägige Kontakte zum Vater ermöglichen. Sie will verhindern, daß Amina in die Mühle der innerfamiliären Konflikte gerät.
Mariposa erzählte, daß ihre eigene Kindheit alles andere als heile war. Was ich in unserer Schulzeit schon wußte, war, daß Mariposas Mutter sehr herrisch auftrat. Mariposa ergänzte, daß die Mutter es verurteilte, wenn jemand seine Gefühle zeigte oder über sie sprach. Der Vater habe sich umgebracht, als Mariposa sieben Jahre alt gewesen sei. Den Kindern sei damals erzählt worden, der Vater sei krank gewesen und deshalb gestorben. Das stimmte höchstens mittelbar.
Mariposa habe als Älteste von drei Mädchen am meisten einstecken müssen. Wenigstens sorgte die Mutter dafür, daß Mariposa mit achtzehn Jahren in dem Mehrfamilienhaus in eine eigene Wohnung ziehen konnte, eine hübsche Dachwohnung mit rosa gestrichenen Wänden. In dieser Wohnung war ich damals öfter zu Besuch, und ich hätte gerne selbst so eine gehabt. Das Haus ist ein eleganter Altbau aus der Jugendstil-Ära. Nach dem Tod der Vermieterin wurde die Miete erhöht, immer weiter, so daß Mariposa schließlich auszog.
Mariposas Schwestern sind verheiratet und haben Kinder. Die Mutter hat mehrere Herzinfarkte und einen Schlaganfall erlitten und ist wesensverändert. Sie kann Hilfe schlecht annehmen, was dazu geführt hat, daß sie nach und nach vereinsamt ist. Mariposa würde sich gerne um ihre Mutter kümmern, doch jedesmal, wenn sie Kontakt zur Mutter aufnimmt, bekommt sie endlose Vorwürfe zu hören. Sie kann das nicht mehr ertragen, zumal sie selbst genügend durchzustehen hat.
Mariposa betonte, die Bedeutung freundschaftlicher Bindungen könne man gar nicht unterschätzen. In ihrer Jugend habe ihr vor allem die Freundschaft mit den Schulkameradinnen Constanze, Antonia und mir geholfen, ein Gegengewicht zu ihrem zerrütteten Familienleben aufzubauen. Wir waren im selben Jahrgang und bildeten eine Art Clique.
"Wir alle hatten es nicht leicht", wußte sie. "Das hat uns wohl auch aneinander gebunden."
Das konnte ich bestätigen:
"Meine Familie war bestimmt alles andere als eine heile Welt. Constanze hat in einer Familie gelebt, wo katastrophale Verhältnisse geherrscht haben. Und die Mutter von Antonia hat sich umgebracht, als Antonia elf war."
Ich erinnerte mich, daß Constanze und Antonia fast nie über Gefühle, die Kindheit und Träume geredet haben. Sie haben fast alles in sich hineingeschwiegen. Mariposa erzählte, daß Antonia vor einiger Zeit seelisch zusammengebrochen ist. Sie habe damals eine Abtreibung hinter sich gehabt, habe noch Hilfe bei ihrem Bruder gesucht, sei dann aber so in sich zusammengefallen, daß ihr klar geworden sei, daß sie seelische Probleme habe.
Mariposa erzählte, ihr sei erst mit Mitte dreißig bewußt geworden, wie sehr ihre Mutter ihr Leben beeinträchtigte. Immer wieder bekam sie von der Mutter entwertende Äußerungen zu hören, und sie wollte sich endlich davor schützen und sich abgrenzen, was sie dann auch tat.
Mit Amina backten wir Plätzchen. Mariposa hatte den Mürbeteig schon vorbereitet, so daß wir uns gleich ans Ausstechen, Backen und Verzieren machen konnten. Als Amina im Bett war, aßen wir einige Plätzchen.
Am Donnerstag war ich beim Rippchenessen im "Keller". Ceno erzählte, daß er in Kürze für sechs Wochen zur Psychotherapie ins "Zuckerschlößchen" geht, eine Klinik in RI., deren Website in süßlichem Rosa gehalten ist. Mavis' Freund Maddox war dort auch schon und wohl ganz zufrieden.
Highscore hat einen neuen Job, für zwei Jahre. Er wird in einer Logistik-Firma in Bkb. arbeiten.
Mavis ist nicht besonders glücklich mit ihrem Studium in HB. Sie überlegt, das Studienfach zu wechseln.
Veva ist nicht mehr mit Pat zusammen. Ihr neuer Freund Sveren trug heute ein mächtiges Stachelarmband, das reicht über den gesamten Unterarm und ist an der Außenseite bewehrt mit Stacheln, die etwa zehn Zentimeter in der Länge messen. Wir stellten uns vor, Sveren würde sich mit diesem Armband auf ein Wasserbett legen. Das erinnerte uns an eine Szene aus dem Kinofilm "Edward mit den Scherenhänden", wo Edward aus Versehen ein Wasserbett aufschlitzt.
Maddox, Highscore und Sveren unterhielten sich über Autos. Autofan Sveren meinte, er sei mit Maddox "auf derselben Cardanwelle".
Als Anwar im "Keller" erschien, vermutete Maddox, da könne Rafa nicht weit sein. Ich widersprach:
"Rafa war schon zweimal nicht mit. Ich glaube nicht, daß er hier ist."
Tatsächlich erschien Anwar mit zwei anderen Leuten. Sie betraten den Gastraum und begrüßten uns. Dann setzten sie sich an einen Tisch gegenüber.
Mavis erinnerte sich, wie Rafa sie beim Sommerfestival in K. fragte, ob Maddox und ihr sein Auftritt mit W.E gefallen habe.
"Sch...", antwortete sie.
"Aber es hat doch 1000 - 2000 Leuten gefallen", hielt Rafa dagegen.
"Nun, es gab eben auch zwei Leute, denen es nicht gefallen hat", blieb Mavis ungerührt.
Als Rafa sie ansprach auf eine Filmvorführung, die er an einem Samstag im "Keller" veranstaltete, erwiderte sie:
"Danke für die Auskunft, wir kommen dann am Sonntag in den 'Keller'."
"Der Film läuft am Samstag."
"Ja, wir sind am Sonntag da."
Rafa soll vor allem dann im "Keller" herumlärmen, wenn er in Begleitung ist. Neulich soll er allein in den "Keller" gekommen sein und ziemlich kleinlaut gewirkt haben. Maddox hatte die Ehre, daß Rafa sich zu ihm setzte. Maddox sagte gleich an:
"Daß das klar ist, Rafa - du darfst hier gern sitzen, vorausgesetzt, du redest nicht über Musik, und du redest keinen Dünnsch..."
"Wieso, du magst mich wohl nicht?"
"Ich mag deine Musik nicht, und ich will keinen Dünnsch... hören", betonte Maddox. "Du darfst gerne erzählen, was du gestern gemacht hast, und du darfst gerne über das Wetter reden."
Es soll funktioniert haben - so lange zumindest, bis Bekannte von Rafa in den "Keller" kamen, die seinen Volksreden bereitwillig lauschten.
Am Tisch wurde erzählt, Veva habe Rafa neulich darum gebeten, sie in Dessous zu fotografieren. Rafa soll entgegnet haben, für eine solche Session müsse sie "ein schönes Höschen" anziehen und einen Pushup, der die Oberweite fast bis unters Kinn anhebt. Außerdem müsse sie eine übermäßige Menge grellroten Lippenstift auflegen und diesen mit reichlich Lipgloss überziehen.
Grellrote Lippen gehörten zum Look der fünfziger Jahre. Damals gab es nur wenig Auswahl bei der Farbe von Lippenstiften. Rafa idealisiert die fünfziger Jahre. Sein Frauenbild paßt zur damaligen Zeit.
Gegen ein Uhr nachts bat Anwar mich, mit ihm auf einer Bank Cancan zu tanzen. Ich hätte doch ein Röckchen an. Ich hatte wenig Lust, für Anwar die Beine hochzuwerfen. Ich sagte zu ihm, ich würde gerne mitmachen, aber lieber als Zuschauer. Außerdem sei eine Hose beim Cancan doch praktischer. Anwar tanzte also auf der Bank alleine Cancan.
Am Freitag frühstückte ich mit Constri und unserer Schulfreundin Asra in der traditionsreichsten Bäckerei von Awb. Constri und ich bestellten die sagenhaften Zitronenrollen, die es nur in dieser Bäckerei gibt; sie werden nach einem Familienrezept hergestellt, das älter sein dürfte als fünfzig Jahre. In einer Hülle aus sehr luftigem Biskuit, der außen mit Puderzucker bestäubt ist, befindet sich eine nur gering gesüßte, sehr lockere und leichte Creme, in die etwas Zitronensaft gemischt ist.
Asra erzählte von ihrem neuen Lebensgefährten, der Harvey heißt und im Kiez-Milieu von HH. beheimatet ist. Sie hat ihn in einem Ferienhaus kennengelernt. Dort machten Asras Kinder Urlaub mit Octave. Asra hat mit Octave zwei halbwüchsige Kinder, Cirra und Orry. Asra und Octave haben nie geheiratet. Sie sind seit Jahren getrennt. Asra besuchte Octave und die Kinder in dem Ferienhaus und begegnete dort Harvey, der ebenfalls mit seinem Kind Urlaub machte. Er ist alleinerziehend.
Asra will weder nach HH. ziehen, noch will sie von Harvey verlangen, sein Leben in HH. aufzugeben. Er habe sich immer nur im Kiez-Milieu bewegt und sei dort sozialisiert, während es ihm schwerfalle, sich anderswo zu integrieren, auch hinsichtlich seines Jargons.
Harvey kennt den Travestie-Künstler Olivia J., den ich aus dem "Base" vom Sehen kenne. Das "Base" war eine Location in H., die schon Ende der achtziger Jahre für immer schloß. Seitdem befindet sich dort das "RAPsody", mit völlig anderer Musik. Im "Base" liefen New Wave, New Romantic und frühe Electronic Body Music: Soft Cell, Fad Gadget, Visage, Off aka Sven Väth, Front 242, Creatures, Tubeway Army ... Die Gäste waren phantasievoll kostümiert, mit Theater-Makeup, Glitzer und Rüschen. Olivia J. war ein besonderer Hingucker.
Asra erzählte, daß Olivia J. neben Travestie-Auftritten auch Kiez-Führungen macht.
In einem Traum begegnete mir Rafa in einer Location. Ich ging von hinten auf ihn zu und sagte über seine Schulter hinweg:
"Du hast eine narzißtische Persönlichkeitsstörung."
Was er dazu sagte, erfuhr ich nicht, weil der Traum zuende war.
Am Sonntagmorgen fuhren Constri und ich bei Frost und Sonnenschein zur A39 hinter BS., in Richtung WOB. Der Lückenschluß zwischen BS. und der A2 ist fast vollendet. Das frisch asphaltierte, noch nicht für den Verkehr freigegebene Autobahnteilstück wird als Naherholungsgebiet genutzt. Als wir dort spazierengingen, begegneten uns viele Spaziergänger und Radfahrer. Auch ein Polizeiauto begegnete uns. Wir erhielten die ausdrückliche Erlaubnis, hier herumzulaufen und zu fotografieren. Unerwünscht seien nur die Sprayer, und die suche man gerade. Eine der neuen Brücken hatten die Sprayer bereits verunziert.
Wir fanden mehrere Brücken, die noch nicht besprüht waren, außerdem viele neue, silbern glänzende Leitplanken - fertige, halbfertige und solche, deren Teile noch abgepackt auf Paletten lagen.
Wir fanden unzählige Fotomotive aus Stahl, Stein und Beton, umgeben von frisch aufgeschütteter Erde und winterlich erstarrter Natur. Von einer der Brücken aus blickten wir auf einen halbgefrorenen Angelteich hinunter.
Mitte Dezember war ich mit Sylvie im "Rondo". Sie brachte mir die Karte für die Travestieshow kurz vor Weihnachten mit. Dragqueen Carla soll fürchterlich im Streß sein. Er stelle nicht nur seine eigenen Kostüme her, sondern auch viele Kostüme für andere Künstler in der Show. Er neige dazu, sich mehr aufzuladen, als er bewältigen könne. Sylvie helfe ihm, wo es gehe. Sie habe auch den Weihnachtsbaum für die Performance organisiert.
Sylvie erzählte, Carla habe schon gemeinsam mit der Dragqueen Olivia J. Kiez-Führungen gemacht. Zwei schrill gestylte, hochgewachsene Dragqueens seien einer Herde Touristen vorangeschritten.
Am Donnerstag fuhren Constri und ich nach Ske. am Brocken. Das Dorf befand sich oberhalb der Schneegrenze. Je höher wir kamen, desto höher lag der Schnee. Wir kehrten in der Gaststätte am Bahnhof ein, der sich oberhalb des Dorfes befindet. Wir tranken Glühwein und schrieben Postkarten. Wir lernten zwei schwarze Katzen kennen, die dort wohnen. Eine ließ sich streicheln. Am frühen Nachmittag kam die Sonne heraus. Wir fuhren mit der Brockenbahn. Constri filmte die verschneiten Wipfel der Bergfichten.
Oben auf dem Brockenplateau schien ebenfalls die Sonne, was ungewöhnlich ist, denn meistens herrscht hier dichter Nebel. Vom Aussichtsraum im achten Stock des Brockenhotels konnten wir weit ins Tal blicken. Unter uns zogen Wolkenfelder vorbei, in immer neuem Farbenspiel, immer wieder anders von der Sonne angestrahlt. Wir machten viele Fotos. Im Café im siebten Stock kehrten wir ein. Constri filmte von dort aus die Wolken, und danach ging es oben im Aussichtsraum weiter. Constri filmte und fotografierte den gesamten Sonnenuntergang. Der letzte Zug kam den Brocken herauf, und Constri filmte auch den Zug. Kurz bevor wir zum Brockenbahnhof gingen, filmte Constri noch mich, wie ich vor einer Glaswand des Aussichtsraums im letzten Licht des Tages Pirouetten drehte. Wir nahmen uns vor, bald wiederzukommen und weiterzufilmen.
Von einer Außenplattform des Dampfzuges filmte Constri einen Fuchs, der im orangefarbenen Laternenlicht auf dem Bahnsteig herumlief. Sie filmte die hellen Fenster des Zuges, die sich auf der ausgefrästen Schneewand am Gleisbett abbildeten. Dann folgte sie mir, die ich im Inneren des Zuges Platz genommen hatte. Die Hinfahrt hatten wir ganz auf einer Außenplattform verbracht, doch jetzt war es uns zu kalt dafür.
Als wir wieder in Ske. ankamen, wurden gerade die beiden schwarzen Katzen gefüttert, am Ende des benachbarten Bahnsteigs. Constri fotografierte sie auch, im Laternenlicht.
Auf dem Weg vom Bahnhof hinunter zum Parkplatz gab es keine Laternen. Doch weil der Mond schien und der Schnee im Wald sein Licht reflektierte, war es hell genug für uns.
Gegen halb zehn Uhr abends kamen wir nach Obk., wo Barnet seinen Geburtstag feierte. Es gab wie gewohnt ein Buffet mit vielen Leckereien, darunter kleine Schnitzel und Tomatensuppe mit Sahne. Heloise erzählte, daß sie mit Barnet und Felicity in London gewesen war, wo sie Underground- und Cyber-Mode gekauft hatten.
Felicity kam die Treppe herunter in einem Faltenmini, einer Strickstrumpfhose und einem avantgardistisch geschnittenen Pullover, alles in gedämpften Farben zwischen Heidekraut und Reetgras. Sie erzählte, daß sie Klamotten trägt, die out sind, und daß sie das gut findet. Als ich sie nach Kelvin fragte, antwortete sie:
"Falsches Thema."
Sie scheint nun endlich mit Kelvin gebrochen zu haben, nachdem er sich nicht zwischen ihr und seiner offiziellen Freundin entscheiden konnte - oder wollte.
Was Ary-Jana betrifft, so soll sie abgenommen haben und statt des übermäßigen Essens nun vermehrt Alkohol trinken. Sie lebe in BI. in einer Wohnung, die ihr die Eltern eingerichtet haben. Sie studiere, jobbe jedoch nicht. Von ihrem Partner soll sie sich vor längerer Zeit getrennt haben.
Als Constri von ihren Filmaufnahmen mit Darien unter einer nahe bei Obk. gelegenen Talbrücke erzählte, merkte Barnet an, diese Brücke sei eines der beliebtesten Ziele für Selbstmörder in der Region. Sie stürzen sich hinunter oder fahren mit dem Auto gegen die Brückengewölbe. Vielleicht wirkt die Brücke auf Selbstmörder auch deshalb so anziehend, weil sie ein so gewaltiges, imposantes Bauwerk ist.
Am Freitag shoppten Constri und ich in dem Second-Hand-Laden in SHG., wo Marie-Jo arbeitet. Sie erzählte, es sei ihr Traumjob. Sie habe auf den Job gewartet, bis er frei wurde. Inhaberin Bernadette führt den Laden parallel zu einer Teilzeitstelle und ist nachmittags im Laden, während Marie-Jo vormittags dort arbeitet. Ursprünglich war es ein Laden für große Größen, doch inzwischen gibt es auch kleine Größen im Sortiment. Marie-Jo erzählte, sie urteile schonungslos; wenn jemandem etwas nicht stehe, rate sie davon ab.
Im nahegelegenen Einkaufszentrum ist die Pizzeria von einem krebsartig wuchernden Bekleidungs-Discounter verdrängt worden. Die Pizzeria ist umgezogen. Die Wandgemälde von Rafa, auf denen eine sonnige, idyllische Mittelmeer-Landschaft zu sehen war, gingen verloren. So konnten Constri und ich sie nicht fotografieren, und es gibt keine Erinnerung daran. Wenn Rafa Fotos von diesen Gemälden hat, wird er sie mir niemals geben; er gibt ja nicht einmal seinem alten Freund Ivco die Fotos, die er 2005 auf seiner Geburtstagsparty gemacht hat.
Abends war mein früherer Mitbewohner Carl zum Essen bei mir. Er will dieses Jahr zu Weihnachten nicht in sein Heimatdorf in der Heide fahren. Er hat im Herbst seine Mutter häufig im Krankenhaus besucht, die dort wegen ihrer Herzinsuffizienz und ihres Diabetes mellitus behandelt wurde.
Carl erzählte von einem seiner Schulkameraden auf der Sonderschule. Dessen Konterfei hat er unlängst in einer Zeitschrift gesehen; er soll eine hohe Position in der Wirtschaft bekleiden. Herkunft und Alter paßten, auch das Aussehen paßte, so daß es sich tatsächlich um jenen Mitschüler handeln könnte. Demnach wäre er einer der Sonderschüler, die zu Unrecht als dumm betrachtet wurden. Als Kind war er schüchtern, ebenso wie Carl; das kann einer der Gründe gewesen sein, warum man den beiden nicht viel zugetraut hat. Carl hat mittlerweile den Realschulabschluß und eine abgeschlossene Ausbildung. Freilich ist er seit Langem arbeitslos. Woran das liegt, ist uns noch nicht so recht klar. Immerhin gelingt es Carl, zu seinem langjährigen Putzjob noch einen zweiten zu bewältigen. Er sei aber schon nach wenigen Stunden Arbeit ziemlich erschöpft.
Carl erzählte vom "Back Door", wo er nachher noch hinwollte. Das ist eine Bar ohne Tanzfläche. Jedoch besitzt das "Back Door" einen "Dark Room" und einen "Sling Room". Carl achtet mehr auf seine Gesundheit als früher, hat allerdings nach seiner schweren Krankheit im letzten Winter seinen promiskuitiven Lebensstil wieder aufgenommen.
Nachts war ich im "Roundhouse" und tanzte bis zum Morgen zu Industrial-Rhythmen.
Am Samstag schaute ich mir die vorweihnachtliche Travestie-Show im Freizeitheim an. Carla trug meine Lieblings-Performance "Carmen" vor. Das Kostüm mit den Lasern, in dem Carla wie ein außerirdischer Saurier aussieht, hatte er mit noch mehr Lasern ausgestattet. In einem silbern schimmernden, ausladenden Kostüm, das einem Sciene-Fiction-Film hätten entsprungen sein können, sang Carla "O Fortuna". Gemeinsam mit einer "echten" Frau, einer Sopranistin, sang Carla zwei Duette - eines davon war das venezianische Duett aus "Hoffmanns Erzählungen" -, und die Sopranistin trug mehrere Opernarien vor.
Humoristisches Highlight war für mich der Auftritt eines langen, dünnen Travestie-Künstlers, der sich ziemlich überzeugend als Amy Winehouse verkleidet hatte und sie ziemlich überzeugend imitierte. Er trug ein Minikleidchen mit grellgelbem Gürtel, grelle, große Blumen in der aufgetürmten Frisur, grelles Makeup und High Heels. Er sang playback den Amy-Winehouse-Hit "Rehab", stolperte dabei auf den High Heels herum, hielt sich schwankend am Mikrophonständer fest, kramte zwischendurch ein Päckchen aus dem Gürtel und tat, als würde er koksen.
Freilich sollte die echte Amy Winehouse wenige Jahre später an ihrer Suchterkrankung zugrundegehen.
Nach der Travestie-Show war ich im "Doomsday". Vor der Tür begegnete mir ein junger Kerl, der fragte mich, ob ich hier nicht falsch sei; dies sei ein "schwarzer Laden". Ich zog das graue Tuch vom Kopf, und da rief er:
"Oh, es tut mir leid, ich habe nichts gesagt. Wir lieben dich!"
"Du meinst, ich gehöre nicht hierher, weil ich zu meinen vollkommen schwarzen Klamotten ein graues Tuch trage?" fragte ich.
Er entschuldigte sich vielmals, auch drinnen wieder. Er erzählte, er sei im Messebau tätig und habe eine "Leerzeichen"-Präsenz unter dem Pseudonym "Der Auferstehende". In seinem Job dürfe er tragen, was er wolle. Ich erzählte, daß ich mich täglich verkleiden muß. Anders ist meine Tätigkeit auf unserem Planeten nicht durchführbar. Ich würde auch lieber lebendig und verspielt auf der Arbeit herumlaufen, doch das läßt sich nur begrenzt umsetzen.
Magenta erzählte, daß sie jetzt eine Vollzeitstelle als Erzieherin gefunden hat, als Elternzeitvertretung. Evelyn erzählte, daß sie nicht mehr plant, eine Ausbildung zu machen. Ihr Bürojob sei genau das, was sie sich gewünscht habe. Zusätzlich arbeitet sie in einer Spielhalle und macht anstrengende Wochenendschichten.
Bunkerbewohner Lucas war mit seiner jetzigen Freundin da. Ich gab ihm zum ungezählten Mal meine Visitenkarte, die er schon unzählige Male verloren hat. Seine Freundin und ich wissen beide, daß Lucas die Karten nicht mit Absicht verliert, sondern wirklich so schusselig ist.
Der asthmakranke Lucas berichtete, er rauche weniger als früher; aufgegeben hat er es freilich nicht.
Am Sonntagnachmittag waren Constri und ich im "Keller" beim Adventskaffee. Ich gab Constri Waldmeister-Vanille-Likör aus. Mit Veva und der zwanzigjährigen Laurea spielten wir Rummykub. Marie-Jo erzählte von ihren Geschwistern. Ihre Schwester Sila ist ihrer Alkoholkrankheit erlegen. Ihr Bruder ist ebenfalls alkoholabhängig. Zu ihm will Marie-Jo keinen Kontakt haben. Es gibt noch eine Schwester, zu der will Marie-Jo ebenfalls keinen Kontakt haben. Nur diese Schwester hat Kinder. Die Eltern von Marie-Jo sind beide verstorben. Ihre wichtigste Bezugsperson ist ihr geschiedener Mann, ihr bester Freund seit 1973. Marie-Jo feiert Heiligabend allein; sie freue sich, ihre Ruhe zu haben.
Zur Feier von Elaines vierzehntem Geburtstag fuhr ich mit Elaine und ihren Freundinnen Jacy und Sasori zu Elaines Wunsch-Lokal, "McGlutamat" im Hauptbahnhof. Ich gab für die Mädchen Essen und Trinken aus und holte mir Latte Macchiato und Chai Latte. Elaine zog ein Zebra aus ihrer "Happy Meal"-Tüte. Das Zebra gibt auf Druck Laute von sich. Es redet sogar. Die Mädchen fachsimpelten über Figuren aus der Manga- und Cosplay-Szene. Elaine ist in eine männliche Comicfigur verliebt, einen hübschen Jüngling.
Heiligabend rief Wave an und wünschte mir frohe Weihnachten. Abends saßen wir bei meiner Mutter unterm Weihnachtsbaum. Am ersten Weihnachtstag waren wir in Awb. in der Kirche, wo im Rahmen des Festgottesdienstes der einjährige Sohn unserer Freundin Valeska getauft wurde. Er heißt Lias Valo. Valeska erzieht ihn allein. Vom Vater des Kindes hat sie sich getrennt, er war bei der Taufe nicht anwesend. Valeska lebt in HB. und arbeitet als Kinderkrankenschwester. Ihr Bruder Valo erzählte, daß Valeska genau vierzig Jahre vor ihrem Sohn getauft wurde. Valo ist der Patenonkel des Kleinen.
Valeska und Valo waren in unserer Grundschulzeit die Nachbarskinder. Valeska ist zwei Jahre jünger als Constri, und Valo ist zwei Jahre jünger als Valeska.
Als Constri Valo die Hand gab, sagte sie zu ihm:
"Das ist die Hand, die du gebissen hast."
Valo war als Kind ein Raufbold und recht schwierig. In Hochsee-Segeltörns fand er später seine persönliche Herausforderung. Inzwischen ist von dem Raufbold nichts mehr zu merken, zumindest nicht für Außenstehende. Valo ist verheiratet und lebt in der Nähe von H. Kinder hat er nicht, und das scheint es zu sein, was zu seinem Glück fehlt. Nun hat er immerhin einen Patensohn.
Abends waren Constri, Denise und ich zum Weihnachtsessen bei Merle und Elaine. Es gab Gans, gefüllt mit Maronen, was ich besonders gern mag. Weil Elaine noch keinen Geburtstagstisch bekommen hatte, dekorierten wir ihr einen Weihnachtstisch. Mit Elaines neuer Digitalkamera machten wir Fotos davon. Merle hat ihr die Kamera geschenkt, damit sie auf Manga-Parties Fotos machen kann.

Am zweiten Weihnachtstag fuhr ich mit Berit zum "Mute", wo ein Festival mit anschließender Party stattfand. Die Veranstaltung hieß "Christmas Ball", und die Gäste strömten in Scharen herbei, so daß das Haus ausverkauft war.
"Du siehst heute zum Anbeißen süß aus", meinte Endera. "Sogar mit Nadelstreifen!"
Tricky meinte, ich würde immer zum Anbeißen aussehen.
Ich hatte eine Corsage mit Spaghettiträgern, Spitzenkante und Nadelstreifen an. Dazu trug ich das, was ich auch sonst meistens beim Ausgehen trage - das Samthalsband mit Kreuz, Herz und Anker in Straß, die Lack-Puffärmel, die langen Abendhandschuhe, die langen, weiten Tüllröcke und in der Zöpfchen-Frisur Organzabänder. Außerdem hatte ich blaue Leuchtstäbchen wie japanische Knotennadeln in die Frisur gesteckt.
Im Saal unterhielt ich mich mit Maylin, Kiran und Mavis. Maylin war froh, mit ihrem Mann Kiran wieder einmal ausgehen zu können. Die Elternschaft und die damit verbundene Verantwortung haben diese Gelegenheiten selten werden lassen.
"Hu, wo kann ich mich verstecken?" rief Mavis auf einmal. "Rafa ist da."
Rafa war soeben in größerer Entfernung vorbeimarschiert. Er verschwand in Richtung des Backstage-Bereichs.
Mavis erzählte, es sei etwa ein Jahr her, daß Rafa sie im "Mute" angebaggert habe. Er habe ihr andauernd am Hintern herumgefingert und dann zu einem Kumpel gesagt, er werde heute noch etwas mit Mavis haben. Dann habe Rafa zu Mavis gesagt, sie würde so toll aussehen. Sie habe erwidert:
"Also, entweder hältst du jetzt die Fresse, oder ich haue dir rechts und links welche 'runter, wie du sie von deiner Mutter noch nicht gekriegt hast."
Da sei er ruhig gewesen.
"Ach, was bin ich froh, daß ich aus dem seinen Beuteschema 'raus bin", seufzte Maylin. "An erwachsene Frauen traut er sich nicht 'ran."
Mavis meinte, sie sei zwar erst zwanzig Jahre alt, aber trotzdem nicht mehr so naiv, daß sie auf Rafa hereinfalle.
Zum Abendbrot genoß ich im Foyer eine Laugenbrezel und Milchkaffee. Das "Mute" hat das Angebot wieder verbessert, nachdem es zwischenzeitlich sehr schmal gewesen war.
Oben in der Raucherlounge unterhielt ich mich mit "Koma", eine Bekanntschaft aus der Online-Szene-Kontaktbörse. Koma erzählte, vom Sehen kenne er mich auf jeden Fall schon.
In der linken hinteren Ecke der Raucherlounge - rechts neben der Tür zum Backstage-Bereich - saß Rafa mit mehreren Leuten an einem Tisch. Auf der Bank an der Wand saß Sarena zwischen Kappa und einem anderen Herrn. Sie lächelte unentwegt, als befinde sie sich im Paradies. Radiomoderator Ace saß rechts an der Stirnseite, links von ihm Rafa, und mit dem Rücken zu Koma und mir saßen Kappas DJ-Kollegen Cyrus und Gavin mit Darienne. Darienne hatte ihre Haare ampelrot gefärbt und streng zurückfrisiert. Sie trug ihre Schmetterlingsbrille. Als Rafa mit Darienne im Backstage-Bereich verschwand, begrüßte ich die Leute an dem Tisch, die ich kannte. Ace erzählte, er sei ohne seine Frau Zara hier, und es gehe ihm schlecht. Er ging aber nicht näher ins Detail.
Als Rafa kurze Zeit später mit Darienne aus dem Backstage-Bereich zurückkam, geriet er im Vorübergehen so nah an mich heran, daß ich ihn von hinten umarmen und in den Flanken kraulen konnte. Ihn schien das nicht zu stören, zumindest gab er keine Äußerung des Mißfallens von sich. Ich unterhielt mich weiter mit Koma.
Es gab heute die Bands S.P.O.C.K., Absolute Body Control, Funker Vogt und Covenant zu sehen. Absolute Body Control gefielen mir besonders. Im Foyer traf ich Dirk I.; wir umarmten und busselten uns zur Begrüßung, und ich lobte ihn für den Auftritt. Absolute Body Control ist eines seiner ältesten Projekte.
Auf der Treppe ins Obergeschoß winkte mir Bruno K. entgegen. Wir umarmten uns zur Begrüßung, und ich kündigte an, später nebenan im "Doomsday" vorbeizuschauen, wo er heute auflegte.
Bruno hat 1990 gemeinsam mit seinem Bandkollegen als Das Ich den Clubhit "Gottes Tod" geschaffen, zu dem Rafa und ich damals regelmäßig im "Elizium" getanzt haben.
Terry war mit Birthe im "Mute". Die beiden sind alte Freundinnen aus HM. Birthe erzählte, daß sie immer noch zu fast jedem Konzert der Band Funker Vogt geht - seit mehr als zwölf Jahren. Die Band stammt aus ihrer Heimatstadt HM.
Den Headliner Covenant schaute ich mir von der Empore aus an, wo es genug Platz zum Tanzen gab. Im Flur sah ich Rafa vorbeilaufen; er war danach verschwunden und mit ihm Sarena. Darienne blieb länger im "Mute".
In der Raucher-Lounge machte Regan mich mit einem Lehrerkollegen bekannt. Der arbeitet im Hauptschulzweig und erzählte, er sei dort ganz glücklich; wenn man wisse, wie man mit den Jugendlichen umzugehen habe, komme man gut zurecht und könne sich durchaus Respekt verschaffen. Die Schüler bräuchten klare Ansagen und reagierten manchmal am ehesten auf Äußerungen wie:
"Fresse halten!"
Das sei eine Sprache, die sie verstünden.
Schön sei an dem Job auch der Austausch mit den Kollegen im Unterstand für Raucher.
Studienrat Regan meinte, im Gymnasium seien die Jugendlichen keineswegs immer so brav, wie man es von Abiturienten erwarten würde. Einige würden mehr oder weniger ihre Zeit absitzen.
Seraf begegnete mir heute auch; er war zu Weihnachten nach H. gekommen, um mit seiner Familie zu feiern. Seit Jahren lebt er in R.
Im "Doomsday" blieb ich längere Zeit zum Tanzen. Unter anderem lief "Running up that Hill" von Kate Bush.
Koma erzählte, Berit habe soeben zu ihm gesagt, er suche sich immer die Frauen aus, bei denen er keine Chance habe. Ich sei jedenfalls nicht zu haben, ich würde einen anderen lieben. Koma meinte, ein solches Verhalten finde er von Berit nicht gut, sie falle mir dadurch in den Rücken. Er vermute, daß Berit, die ihn seit einem Jahr kennt, insgeheim hinter ihm her sei und daher jede mögliche Beziehung zwischen ihm und mir im Vorfeld sabotieren wolle.
"Wie dem auch sei", meinte ich, "was sich ergibt, ergibt sich."
Koma sprach Berit auf ihr Verhalten an, die ziemlich verlegen wirkte.
"Berit gibt es auch verlegen", wunderte sich Koma. "Sie gibt sich doch sonst immer nur so cool."
"Oh, das ist sie nicht", entgegnete ich. "Sie kann ganz schön unsicher sein."
Koma meinte, Rafa sei heute so betrunken gewesen, daß ihm seine Anwesenheit gar nicht aufgefallen sei; deshalb wohl habe er ihn nicht begrüßt. Rafa habe Halblitergläser mit Bier getrunken.
Koma scrollte die Nummern auf seinem Handy durch und zeigte:
"Hier, ich habe auch Rafas Nummer."
Koma ist schon öfter beim W.E-Fanclubtreffen gewesen, aber nicht in erster Linie, um Rafas Auftritte zu sehen, sondern um Bekannte aus Schweden und Dänemark zu treffen. Wie sich herausstellte, gehört Koma zu der Clique, mit der Regan immer zu den W.E-Fanclubtreffen fährt.
"Was, du kennst Regi?" staunte Koma. "Regan?"
Koma erinnert sich noch gut an Berenice. Er erzählte, er wisse von wenigstens zwei Männern, die Berenice bei ihrem Weggang von Rafa "mitgenommen" habe. Wer diese Männer waren, erzählte er nicht. Vielleicht meinte Koma zwei W.E-Fans, die seit Berenices Ausstieg bei W.E keine Fans dieser Band mehr sind.
Am Samstag war ich im "Zone". In der Area "Kreuzgang", die wie eine Kirche gestaltet ist - sogar mit Beichtstuhl -, legte Andreas D. von Xotox auf. Es gab hämmernde elektronische Beats. Unter anderem liefen der "Marble Mix by Xotox" von "DC Disk" von KiEw und "100 % Elektronik" von FabrikC.
Barmixer Jo-Jo mixte mir einen Cocktail zusammen, den er vorher noch nicht gemixt hatte, einen seiner Fruchtcocktails, die schmecken wie ein ganzer Obstgarten. Während ich den Cocktail trank, kamen Minette und Malvin an die Bar und ließen sich von Jo-Jo ebenfalls einen Fruchtcocktail mixen. Von dem bekam ich auch ein Glas ab, kostenlos.
Minette erzählte von der Kirmes in SHG. vor anderthalb Jahren. Damals waren zwei junge Verwandte dabei, um die achtzehn Jahre alt. Minette warnte die Mädchen vor Rafa; sie sollten sich auf keinen Fall mit ihm einlassen. Tatsächlich begegnete ihnen Rafa auf der Kirmes. Gleich baggerte Rafa die jungen Mädchen an; die eine fragte er, ob sie mit ihm Geisterbahn fahren wollte.
"Nein", entgegnete sie sofort.
Rafa soll ziemlich erstaunt gewesen sein über die schnelle Abfuhr.
"Sowas kann der gebrauchen", meinte ich. "Der kann noch viel mehr davon gebrauchen."
Rafa hat auch Minette schon angegraben, ohne Erfolg. Minette meinte, Rafa komme mit selbstbewußten Frauen nicht zurecht.
Als ich erzählte, daß Rafa sich im "Mute" kaum um Sarena gekümmert hat, meinte Minette, Rafa stelle seine Freundinnen typischerweise in die Ecke, wenn er mit ihnen ausgehe. Das ist mir auch bei Sarenas Vorgängerinnen aufgefallen. In der Anfangsphase, wenn Rafa noch um die Mädchen wirbt, kann es sein, daß er mit ihnen in Clubs und Bars turtelt, doch schon nach recht kurzer Zeit weist er ihnen eine Nebenrolle zu, und sie werden nahezu unsichtbar - es sei denn, sie werden zu Sängerinnen abgerichtet. Doch auch dann sind sie nicht als Rafas Freundinnen erkennbar.
Minette erzählte, daß Sarena in Rafas Nähe ziehen will. Augenscheinlich plant Rafa noch nicht, mit Sarena zusammenzuziehen.
Minette glaubt nicht, daß Rafa noch etwas mit Darienne hat. Darienne gebe sich wohl damit zufrieden, nur noch Bandmitglied und nicht mehr Bettgespielin von Rafa zu sein. Auf der Bühne im "Zone" habe sie voller Stolz die von Rafa inszenierte Bühnenshow präsentiert. Sie habe sogar ihr eigenes Lied: "Ich bin aus Plastik".
Im "Zone" gab es ein Wiedersehen mit Heloise, Barnet, Ary-Jana, Chrysa, Talis, Janice, Hauke, Les und Marvel. Marvel war nicht als DJ, sondern als Gast da. Les war als DJ da und klagte, weil sein Auto kaputtgegangen war.
Am Sonntag unternahmen Constri und ich einen ausgedehnten Spaziergang auf der A39 und begegneten vielen anderen Sonntagsspaziergängern. Es war frostig kalt und sonnig. Die Äcker lagen im Rauhreif, und die Entwässerungsbecken und -gräben unterhalb der Fahrbahn waren mit einer Eisschicht bedeckt. Die teils ausgemauerten, teils betonierten Entwässerungsanlagen und die halbfertigen Leitplanken, um die herum leuchtfarbene Markierungen auf den hellen Beton geschrieben waren, gehörten zu unseren beliebtesten Fotomotiven.
Wir gingen dorthin, wo Cyra und ich vor siebeneinhalb Jahren die im Dornröschenschlaf liegende Südseite des Autobahnkreuzes besichtigt haben, in dem sich die A2 und die A39 begegnen. Damals waren die Mittelleitplanken der blind endenden Südseite von Heckenrosen überwachsen, und die asphaltierte Fahrbahn endete in einem Haufen Schotter und Schutt, umstanden von hohen Bäumen. Von all dem ist nichts mehr übrig. Auch die Fahrbahndecke wurde erneuert.
An der südwestlichen Ecke des Kreuzes steht ein Backsteinhäuschen mit einer Antenne im Garten, das gab es damals auch schon; es scheint ein Betriebsgebäude zu sein.
Silvester fand dieses Jahr als Familienfeier statt. Es gab Käsefondue für Constri, Denise, meine Mutter und mich. Dazu gab es heißen Familien-Punsch und Holundersaft. Um Mitternacht gab es Sekt für die Erwachsenen. Nach draußen gingen wir nicht; es fror Stein und Bein.

Am Neujahrstag kam ich abends zu Magnus. Schon kurz nach neun Uhr erreichten wir das "Ferrum", und das gab uns die Möglichkeit, in der Lounge gemütlich an einem Tisch zu sitzen und das Buffet zu genießen. Die Veranstaltung hieß "Katerfrühstück", wenngleich sie abends stattfand, und passend zum Titel war das Buffet um Rollmöpse und Bratheringe ergänzt worden.
Magnus erzählte von seiner Kommilitonin Maru. Sie hatte einen Freund, als Magnus im letzten Sommer nach Jahren wieder Kontakt zu ihr aufnahm. Ich hatte Magnus insofern zu der Kontaktaufnahme ermutigt, als ich zu bedenken gab, daß die meisten Beziehungen nicht halten und daß man sich deshalb durchaus Hoffnungen machen kann auf jemanden, der vergeben ist. Und tatsächlich ging Marus Beziehung im Herbst in die Brüche. Nun wäre der Weg für Magnus frei gewesen, um sie zu werben. Die Sache scheiterte allerdings an Magnus selbst. Maru hatte ihm erzählt, sie sei "leidenschaftliche Raucherin", und das allein schreckte Magnus vollkommen ab.
"Dann kann es ihm nicht besonders ernst gewesen sein", dachte ich bei mir.
Denever kam heute im Schottenrock ins "Ferrum". Er hatte eine neue Freundin mitgebracht, mollig wie er, dennoch ein Kontrast - er ein bleicher, blonder Kelte, sie dunkelhäutig und schwarzlockig.
Das heutige Kostüm-Highlight trug ein Mädchen, das Korsett und Rock aus demselben Stoff anhatte - aufgedruckte Totenschädel, durchmischt von roten Rosen.
Um elf Uhr wurde die Lounge zur Raucherzone. Magnus und ich gingen hinüber in die Area, wo Rafa auflegte. Er hatte die Jacke mit dem Zebra-Muster an, die er auch bei seinem DJ-Set zu Ostern getragen hat. Sarena lief unten herum, in einem Miniröckchen mit Leopardenmuster. Sie ging nur selten zu Rafa ans DJ-Pult. Wann immer ich sie dort oben sah, kam es mir vor, als wenn Rafa bemüht war, sie möglichst schnell abzufertigen. Nichtsdestoweniger lächelte sie entrückt, ganz gleich, was Rafa sagte oder tat. Sie schien einfach alles gut zu finden, was mit ihm zu tun hatte.
Sarena kannte einige Leute im "Ferrum", hatte also immer Gesellschaft.
Rafa brachte ein Programm, das mir überwiegend gefiel - wie immer, wenn er im "Ferrum" auflegt. Ich war also häufig auf der Tanzfläche. Unter anderem spielte Rafa "Dirty girls and dirty boys" von Faderhead, "Verschwende deine Jugend" von DAF und "Film 2" und "Träume mit mir" von Grauzone.
Hinter der Bühne wurden C64-Videospiele auf die Leinwand projiziert, live gespielt von zwei Leuten, die vor der Bühne standen. Sie verwendeten Joysticks, die einen C64 im Kompaktformat enthielten.
Gegen ein Uhr nachts war Rafa in der Lounge und rauchte dort mit einigen Bekannten. Ich unterhielt mich mit Denever, der von seinem zwölfjährigen Sohn erzählte. Er lebt nicht mit ihm, sieht ihn aber regelmäßig und häufig.
Später stieg Rafa noch einmal von der Bühne herunter, nämlich als ein paar Leute sich mit ihm fotografieren ließen. Rafa warf sich in die gewohnte Pose: mit Grinse-Grimasse, ausgestrecktem Arm und nach oben gerichtetem Daumen.
Das letzte Stück des heutigen Programms war zugleich das einzige von Rafas eigenen Stücken - das "VW Käfer"-Lied, das ich ganz besonders scheußlich finde. Während es lief, war ich in der anderen Area. Als ich zurückkam, verabschiedete Rafa sich durchs Mikrophon von seinem Publikum und dankte "für die Loyalität". Ich faßte mir an die Stirn.
Während Rafa auf der Bühne seine Sachen zusammenräumte, stieg Magnus zu ihm hinauf und fragte ihn nach einem C64-Werkstück, das er vor längerer Zeit zu bearbeiten versprochen hatte. Wie zu erwarten, hatte Rafa sich darum nicht gekümmert, und er wirkte etwas verlegen.
Ich stand unten vor der Bühne und betrachtete die Szene. Rafa, der während der gesamten Veranstaltung seine Spiegelbrille trug, gestikulierte und schaute um sich. Dabei zeigte er auf mich. Was das zu bedeuten hatte, werde ich nicht herausfinden. Magnus gegenüber erwähnte Rafa mich jedenfalls nicht.
Kurz bevor Rafa von der Bühne herunterkam, stieg einer der Veranstalter zu ihm hinauf und wechselte einige Worte mit ihm. Rafa sagte unter anderem:
"Wir sehen uns Ostern."
oder:
"Bis Ostern."
Vermutlich legt er zu Ostern wieder im "Ferrum" auf. Der Termin steht allerdings noch nicht auf der W.E-Homepage.
Bei Magnus schlief ich auf dem Sofa. Ich träumte Folgendes:
Mit Denise, Onno, Magnus und Rafa spielte ich Gesellschaftsspiele an einem quadratischen Tisch aus Holz. Rafa und ich spielten Mühle. Einmal, als Rafa am Zug war, schien er nicht so recht zu wissen, was er vorhatte. Er setzte einfach und gab mir so die Möglichkeit, ihm eine Zwickmühle zu bauen, ein No-Win-Szenario über mehrere Züge. Rafa erkannte sofort, daß er verloren hatte. Er machte keinen Zug mehr, er seufzte nur noch.
"Du hast Rafa totgemacht", sagte Onno zu mir.
Als wir aufstanden, zeigte Magnus mir ein Bauteil für den C64, das er entworfen hat und das viele C64-Fans bei ihm ordern. Ich wurde auf ein zartblaues Flachkabel aufmerksam und fragte Magnus, ob man davon wohl einen Gürtel machen könnte. Er meinte, man könnte das wohl, dürfe nur keinen Zug auf den Gürtel ausüben, sonst reiße er.
Am Samstag waren Constri, Jas und ich bei "Stahlwerk". Dort trafen wir unter anderem Barnet, Heloise, Fermin, Sirio und Tana. Unter anderem liefen heute "Sonic War (Backup Files of the Original)" und "Chrome injected Car Crash Rhythm Boxx (Original)" von Sona Eact und "Button Push" von Asche.
Im Auto erzählte Jas von Gavin, einem DJ-Kollegen von Kappa. Gavin wähle meistens blonde Frauen und habe auch schon mit Zenza etwas gehabt. Ein Mädchen habe sich umgebracht, nachdem es von Gavin enttäuscht worden sei. Gavin habe damit herumgeprahlt; er habe die Tragödie dazu benutzt, sich wichtig zu machen. Beruflich habe Gavin kaum etwas erreicht. Er lebe bei seinen Eltern und gehe keiner geregelten Arbeit nach. Er wolle gerne ein Star sein.
Jas bestätigte meine Vermutung, daß Kappa und Edaín nur Männer zu ihren Parties einladen und daß Frauen lediglich als Anhängsel der Männer dabei sein dürfen. Frauen ohne männliche Begleitung habe Jas nie auf den Parties bei Kappa und Edaín gesehen, und er sei oft dort gewesen.
Kappa habe vor einiger Zeit geäußert, er wolle seinen Freundeskreis nicht zu groß werden lassen. Das Ergebnis sei ein allmählich bröckelnder Club weniger Männer, die versuchten, einander das Wasser abzugraben. Gavin habe Jas gegenüber verlauten lassen, er habe zwei Ziele: Er wolle Kappas Job und Kappas Frau.
Es soll auch Männer geben, die Kappa in seinen Freundeskreis hineinzuziehen versucht - diejenigen nämlich, die er verehrt. Dem Musiker Steve N. gegenüber soll Kappa sich fast unterwürfig verhalten. Als Jas Kappa in einer dringenden Sache anrief - es ging um die Korrektur von Flyern für eine Party, die eilig gedruckt werden mußten -, wimmelte Kappa Jas mit der Begründung ab, er habe gerade Besuch von Steve N. Jas rief nochmals an, um Kappa die Situation zu schildern, da wurde Kappa ungehalten:
"Ich hatte dir doch gesagt, ich habe Besuch von Steve."
Jas habe erwidert, es lasse sich leider nicht umgehen, jetzt über die Angelegenheit zu sprechen. Da endlich habe Kappa ihm zugehört.
Am Freitag war ich im "Roundhouse". Marvel spielte unter anderem "Robuste Maschine" von Reaper, "N.O.I.Z.E" von Hypnoskull, "Terror against" von Punch Inc., "Headhunter 2000 (Suspicious Mix)" von Front 242 und "Dare to live" von Rotersand. Als er mit seinem Set fertig war, gingen mehrere Gäste auf ihn zu und lobten sein Programm.
Am Samstag war ich im "Radiostern". Cyra berichtete, daß das Teilstück der A39, auf dem Constri und ich neulich spazierengegangen sind, in den nächsten Tagen für den Autoverkehr freigegeben werden soll. Cyra erinnert sich noch gut an unseren heimlichen Spaziergang auf dem unfertigen Südende des Autobahnkreuzes vor sieben Jahren.
Cyra erzählte, daß ihre WG-Genossin Cielle wieder an Depressionen leidet. Cielles Beziehung allerdings sei nach wie vor glücklich.
"Wenn aus der Vergangenheit unbearbeitete Sachen herumliegen, kommen die irgendwann wieder hoch", meinte ich, "davor schützt eine glückliche Beziehung nicht."
DJ Osiris erzählte, daß er mittlerweile arbeiten geht, allerdings nicht in dem Beruf, für den er studiert hat. Es sei schwer, nach dem Studium der Luft- und Raumfahrttechnik in der Branche Arbeit zu finden, wenn man nicht schnell genug sei. Osiris montiert jetzt Jalousien.
An Rafas Geburtstag fuhr ich nachmittags zu der noch nicht freigegebenen A39 und spazierte eine der Ausfahrten hinunter. Die Autobahn und das Land ringsumher waren im Schnee versunken. Die Leitplanken waren schon fast fertig montiert, nur unter den Brücken fehlten noch einige Querverbindungen. Ich ging auf der Fahrbahn nach Süden zu einer Brücke, die ich in der blaßrot-goldenen Dämmerung fotografierte. Zierende Metallstücke leuchteten auf dunklem Holz.
Da es weiterhin fror, lief ich tags darauf mit meinem Vater auf dem Baggersee Schlittschuh. Der Baggersee liegt nur etwa zweihundert Meter vom Haus meines Vaters entfernt. Für die Schlittschuh-Tour hatte mein Vater sich einen Overall angezogen, der eigentlich für Kühlhaus-Arbeiter gedacht ist. Die Sonne strahlte auf die Eisfläche, die gerade noch ausreichend trug. Am Ufer standen Schilfgras und Rohrkolben-Gräser, umgeben von sehr glattem, klarem Eis und etwas Schnee.
Am Dienstagabend schauten meine Mutter und ich im Kino die Neuauflage des Science-Fiction-Klassikers "Der Tag, an dem die Erde stillstand". Meine Mutter fand den Film etwas flach und zu plakativ. Ich meinte, immerhin sei die Botschaft der Gewaltfreiheit massenkompatibel verpackt und könne auf diese Weise mehr Menschen erreichen als in einer künstlerisch höherwertigen Verpackung. Der Film war so gestaltet, daß am Schluß eine junge Frau mit einem Kind im Arm als Madonnenbild die Welt vor dem Verderben rettete. Zuvor hatten alle Waffen, alle Panzer nichts gegen den nahenden Weltuntergang ausrichten können.
Per E-Mail tauschte ich mich mit einem Jazz- und Klassik-Pianisten aus, den ich aus meiner Jugendzeit kenne, Auryn. Er hat sein Mineralogie-Studium abgebrochen und sich ganz seiner Leidenschaft, der Musik gewidmet. Er komponiert auch. Mitte der achtziger Jahre schaffte er sich einen Yamaha DX7 an.
Auryn hat ein absolutes Gehör. 1985 hat er auf meine Bitte begonnen, Mike Garsons aberwitziges Klaviersolo in "Aladdin Sane" von David Bowie in Notenschrift zu fassen. Eine Seite - immerhin - wurde voll. Auryn meinte damals, eigentlich sei es gar nicht möglich, dieses Solo niederzuschreiben. Es ist wohl nicht zu Unrecht als "Arm-auf-Tasten-Solo" in die Musikgeschichte eingegangen.
Auch in "The Lamb lies down on Broadway" von Genesis spielt das Klavier eine besondere Rolle, im wahrsten Sinne des Wortes. In der Kurzgeschichte "Lebenszeichen" habe ich beide Titel verarbeitet, außerdem "Human" von The Killers und "Bleeding" von Delerium. "Lebenszeichen" ist multimedial angelegt und würde auch als Video funktionieren. In diesem Fall müßte man allerdings die GEMA einbeziehen.
Auryn kennt meine Schulfreundin Antonia. Er hat sie zuletzt vor zehn Jahren getroffen. Sie soll Mann und Kind haben und nach Bayern gezogen sein.

Am Donnerstagabend war ich im "Keller" zum Rippchenessen. Ceno war dieses Mal nicht dabei, er ist stationär im "Zuckerschlößchen". Mavis' Freund Maddox war aber im "Keller". Er ist in tagesklinischer Behandlung im "Zuckerschlößchen", und es gefällt ihm dort. Mavis konnte heute nicht im "Keller" sein, sie war wegen ihres Studiums in HB. Für Marie-Jo gab es heute im "Keller" im Rahmen des Rippchenessens die nachgeholte Weihnachtsfeier mit ihrer Chefin und deren Kollegen. Marie-Jo erzählte von den Menschen, um die sie sich kümmert, die sie im Krankenhaus besucht oder denen sie im Alltag hilft. Ihr Teilzeitjob lasse ihr genügend Zeit dafür, das freue sie. Sie mache ihren Job sehr gern. Dennoch hoffe sie, eines Tages wieder einen Job zu haben, von dem sie leben könne.
Marie-Jo erzählte von einer Kundin im Second Hand Shop, die sei übergewichtig, habe jedoch zielstrebig Kleidung in Größe 38 ausgesucht. Marie-Jo habe nichts dazu sagen wollen, um die Kundin nicht zu kränken. Sooft die Kundin mit der nicht passenden Kleidung aus der Kabine gekommen sei, habe sie sich bei Marie-Jo beschwert, die Kleider seien mit der falschen Größe etikettiert worden. Marie-Jo habe nur genickt und die Sachen beiseitegehängt.
Marie-Jo mag figurformende Wäsche nicht. Sie meinte, diese Wäsche täusche etwas vor, das so nicht sei. Ihre Mutter habe verlangt, daß sie ein Korselett trug, als sie konfirmiert wurde. Schon mit vierzehn Jahren habe sie Größe 48 gehabt. Widerwillig sei sie in das Korselett gestiegen und habe sich regelrecht eingemauert gefühlt. Noch während der Familienfeier nach dem Konfirmationsgottesdienst habe sie heimlich das Korselett unter ihren Kleidern ausgezogen ... und nie wieder angezogen.
Gegen zehn Uhr abends erschien Rafa in Begleitung eines Kumpels und nahm schräg gegenüber von uns an einem Tisch Platz, neben dem Durchgang zum Schankraum. So zeitig ist er sonst nie beim Rippchenessen im "Keller".
Rafa hatte keine Brille auf. Er schaute zu mir herüber, gerade in mein Gesicht, und schien sich dann bewußt wieder loszureißen. Das kam mehrmals vor. Auch kam es vor, daß Rafa eigentlich woanders hinschaute, dann aber zwischendurch mir in die Augen sah und ganz schnell wieder wegguckte.
Mir fiel auf, daß Rafa verdächtig oft seinen Kopf ins Genick warf und sich die Ponysträhnen aus dem Gesicht schleuderte. Das ist bei ihm ein deutliches Zeichen von Unsicherheit und Verlegenheit.
Rafa holte sich viele Rippchen und futterte mit gutem Appetit. Ein junges, eher unscheinbares Mädchen gesellte sich zu ihm und seinem Kumpel. Es trug die schulterlangen naturblonden Haare offen und mit Pony. Zuerst setzte es sich neben Rafa, schlang die Arme um ihn und gab Bussis. Rafa erwiderte diese Zärtlichkeiten eher zurückhaltend. Das Mädchen nahm dann schräg gegenüber von ihm Platz, dort saß es auch die meiste Zeit. Es zog sich die Sweatshirtjacke aus, unter der es eine karierte Bluse mit Puffärmeln trug. Das Blüschen war entschieden zu leicht für das kalte Wetter. Mir kam es vor, als wenn das Mädchen mit dieser spärlichen Garderobe etwas bezwecken wollte.
Ich war froh, warm angezogen zu sein. Ich trug einen schweren dunkelgrauen Baumwollpullover mit Zopfmuster, darüber einen Gürtel und dazu einen langen graubraunen Rock mit einer grauschwarz gemusterten Taftrüsche am Saum.
Marie-Jo gab mir ein Tuch, das sie im Second Hand Shop wiedergefunden und für mich reserviert hatte, etwas wirklich Besonderes. Es ist ein handgearbeitetes Witwentuch, das zur Schaumburger Tracht gehört. Ich legte es mir um die Schultern; im Keller war es in der Tat ziemlich kalt, und ich konnte das Tuch gut gebrauchen.
Marie-Jo erzählte, sie kenne die Mutter von Rafa, die in der Nachbarschaft des Second Hand Shops wohnt. Ihr ist Rafas Mutter sympathisch; sie sei jemand, der mitten im Leben stehe.
Marie-Jo hat sich im "Keller" schon mit Sarena unterhalten. Sie ist ihr ebenfalls sympathisch. Sarena sei recht "tough". Sie plane, nach SHG. zu ziehen.
"Ich frage mich nur, wie sie reagiert, wenn sie herausfindet, daß Rafa sie betrügt", meinte ich. "Dann stürzt ihr Wolkenschloß zusammen."
"Mir tun die Mädchen auch leid", sagte Marie-Jo. "Aber ich denke auch, da gehören immer zwei zu - einer, der betrügt, und einer, der sich betrügen läßt."
"Rafa sucht sich aber immer Mädchen aus, die gegen ihn keine Chance haben", wandte ich ein.
Marie-Jo ging zu Rafa an den Tisch und wechselte einige Worte mit ihm. Ich kam gerade vorbei und blieb kurz stehen. Wir redeten über die Soßen auf dem Tisch. Rafa gab sich Mühe, nie direkt etwas zu mir zu sagen.
Im "Keller" wurde es leerer. Laurea setzte sich zu Marie-Jo und mir an den Tisch. Sie berichtete, daß sie nach dem Abschluß ihrer Ausbildung zur Bürokauffrau ("Edeltipse de luxe") keine Stelle beim Paritätischen bekommen kann. Sie hat sich anderweitig beworben und festgestellt, daß sie ungefähr achtzig Mitbewerberinnen hat.
Laurea erzählte von ihrem zweiundzwanzigjährigen Bruder. Er sei am hellichten Tag mit Absicht in eine Blitzfalle gefahren und habe daraufhin seinen Führerschein für drei Monate abgeben müssen. Kurz vor dem Ende dieser Frist sei er schwer alkoholisiert in ein Auto gestiegen, obwohl er durchaus an dem Ort hätte schlafen können, wo er gezecht hatte. Er habe das Auto in einen Graben gefahren. Jetzt sei der Führerschein endgültig weg.
Pat kam an den Tisch und war mir gegenüber nicht mehr so abweisend wie bisher; er gab mir sogar die Hand.
Rafa war zwischendurch draußen zum Rauchen, er saß ab und zu auch vor der Theke. Dort kam ich vorbei, als ich zum Bad ging, und nutzte die Gelegenheit, an seinem Rücken entlangzustreifen. Er beschwerte sich nicht.
Rafa nahm schließlich mit seinem Kumpel und dem naturblonden Mädchen im Schankraum Platz. Mitternacht war vorbei, und dort war nun das Rauchen gestattet. Rafa hielt Volksreden für die Leute im Schankraum. Er betrachtete Fotos auf einem fremden Handy und fragte zu einem dieser Fotos:
"Wie alt ist die?"
"Zweiundzwanzig", kam die Antwort.
"Nicht schlecht", fand Rafa.
"Ach, er ist wieder Mädchen am Checken", bemerkte ich.
Rafa ließ Bibian Titel von sich selbst spielen, unter anderem einen, in dem er Sachen singt wie:
"Ein Leben für den Augenblick. Und alles, was mit dir geschah, ist für mich heute nicht mehr wahr."
Mir kam der Gedanke, daß Rafa vielleicht schon etwas mit dem naturblonden Mächen hatte und inzwischen nichts mehr von ihm will; es ist "abgehakt".
Als Marie-Jo und ich uns zu den Leuten am Tisch im Schankraum gesellten, hatte sich das naturblonde Mädchen noch mehr entblößt, und das, obwohl es im Schankraum noch kühler war als im Gastraum. Das Mädchen hatte sich das leichte Blüschen aufgeknöpft, so daß man freie Sicht hatte auf das sehr tief ausgeschnittene schwarze Unterhemd. Rafa schien davon wenig oder gar nicht beeindruckt zu sein. Für einige Zeit saß er seltsam in Gedanken versunken auf der Bank, die Hände vor sich auf die Tischplatte gelegt; er blickte ins Nirgendwo.
Auf dem Tisch lag eine Gliederschlange aus Plastik, wie wir sie früher schon im Kinderzimmer hatten. Ich spielte mit der Schlange und lud Marie-Jo zu meiner Geburtstagsparty ein.
Als ich kurz im Gastraum war und wieder zurück im den Schankraum kam, hockte Rafa vor dem Tisch bei Marie-Jo, wo ich zuvor gestanden hatte. Ich stellte mich wieder an meinen Platz, direkt hinter Rafa. Das hielt Rafa nicht lange aus; er stand eilig auf und ging zu Bibian an die Theke.
Es war halb zwei, als Rafa bezahlte und mit seinem Kumpel den "Keller" verließ - ohne das naturblonde Mädchen.
Am Freitagabend waren Constri, Elaine und ich im Opernhaus. Elaine hatte sich fein gemacht, mit bunten Haarclips, langem schwarzem Kleid und durchsichtigem schwarzem Casuble. Sie konnte sich das Casuble von ihrer Mutter ausleihen, weil die beiden inzwischen gleich groß sind. Wir sahen das Ballett "Cinderella", eine prächtige, ausdrucksstarke und unterhaltsame Inszenierung. Die Pausen mit Laugenbrezel, Kaffee und Kaltgetränken haben für uns längst Kultcharakter.
Am Samstag war ich mit Elaine und Jacy bei Ikea, wo Elaine einen zweiten Schreibtisch bekam. So kann auf dem einen Tisch ihr Zweitrechner stehen, und an dem anderen kann sie ihre Schularbeiten machen.
Jacy erklärte, was mit "Ikea" abgekürzt wird:
"Idioten kaufen einfach alles."
Im Aufzug sagt eine Computerstimme "Tür öffnet", "Tür schließt", "Fahrtrichtung ab", "Fahrtrichtung auf". Wir ahmten das nach und ergänzten in demselben Tonfall:
"Tür öffnet nicht. Fahrt zur Hölle. Achtung - Selbstschußanlage."
Die meiste Zeit verbrachten wir im Ikea-Restaurat, das in den Abendstunden angenehm leer wurde. Man kann sich dort mit demselben Trinkgefäß unbegrenzt Getränke nachnehmen, was unseren Aufenthalt noch ausdehnte.
Elaine erzählte, daß sie ihren stressigen Lebensalltag nur mit Hilfe von Schokolade und Kaffee bewältigt. Dem konnte ich mich anschließen.
Elaine mag Musik von Linkin' Park und Artverwandtes. Solche Musik gefällt mir auch. Als ich erzählte, daß ich "Allein allein" von Polarkreis 18 mag, wehrten Jacy und Elaine ab; das könnten sie nicht mehr hören, seit ein Nachbar dieses Stück auf Repeat laufen ließ und sie mithören mußten.
In der Nacht war ich im "Lost Sounds", wo Kappa und Gavin eine neue Veranstaltungsreihe begannen. Jas berichtete, daß Ace ihm letzte Woche beim DAF-Konzert sein Herz ausgeschüttet hat. Aces Ehefrau Zara hat vor Kurzem erfahren, daß sie Krebs im fortgeschrittenen Stadium hat. Jetzt ist sie krank zu Hause.
Magenta berichtete, an der Tür habe man sie mit ihrem pinkfarbenen Leo-Webpelz nicht einlassen wollen, das sei den Türstehern nicht "gothic" genug. Schließlich habe man sie doch eingelassen, unter der Voraussetzung, daß sie den Pelz ablegte. Nun trug sie ihn erst recht. Ich bestärkte sie darin.
"Kappa findet immer wieder Mittel und Wege, seine Gäste von dem Besuch seiner Veranstaltungen fernzuhalten oder abzuschrecken", meinte ich. "Das war schon im 'Nachtlicht' so, als er mit der Gießkanne Hausverbote an Stammgäste verteilt hat, weil ihm gerade danach war. Und er hat vorbestrafte Skinheads als Security eingesetzt - ausgerechnet die Leute, vor denen die Gäste geschützt werden müssen. Vielleicht hat dieses Verhalten mit Kappas Wunsch nach einer elitären Clubgesellschaft zu tun. So etwas kann er in der Wave-Gothic-Elektro-Szene aber vergessen, das funktioniert nicht."
Siro meinte, er sei immer allein gewesen und werde für immer allein bleiben; mit den Frauen habe er nur flüchtige Erfahrungen gemacht.
"Bei mir ist das genauso", erzählte ich.
"Aber du bist doch so ein hübsches Mädchen", wandte er ein.
"Das ändert nichts. Das Problem ist, daß ich mich nie verliebe, es gibt für mich immer nur ein und denselben, und der taugt nichts."
Kitty war heute ohne ihren Freund Vico im "Lost Sounds". Sie hatte ihren Pony umgeföhnt, im Sixties-Stil. Sie meinte, heute könne sie das so stylen, weil Vico nicht da sei, den das stören könnte. Vico war beruflich unterwegs.
Als Rafas Stück "Schweben, Fliegen und Fallen" gespielt wurde, rannte Kitty nach draußen. Ich sagte zu ihr, bei solcher Musik würde ich zur Toilette gehen.
"Da höre ich es nicht leise genug", meinte Kitty.
Im "Lost Sounds" traf ich so viele Leute, daß es einem Familientreffen ähnelte. Ich erzählte Brandon von der Geschenkschleife, die ich zu Weihnachten an Constris 24. Adventskalender-Päckchen geklebt hatte, einen Karton mit einem Schreibtischstuhl darin. Ich war kurz im Bad, danach war die Schleife verschwunden. Tage später tauchte sie wieder auf, mitten im Zimmer - zerbissen und zerrupft.
Die Katzen Domino und Bastet haben die Angewohnheit, ihr Futter zu verscharren oder es zumindest zu versuchen. Da ihre Näpfe seit einiger Zeit auf einem Läufer stehen - damit sie Läufer nicht mehr als Toilette, sondern als Futterplatz wahrnehmen -, pflegen sie den Läufer über den Näpfen zusammenzufalten, so daß sich ein Haufen ergibt. Einen solchen Haufen faltete ich neulich auseinander, doch statt des erwarteten Futternapfes lag - sic! - die zerbissene Geschenkschleife unter dem Stoff.
Am Freitag war ich im "Doomsday", wo Torvil von FabrikC auflegte. Die Musik gefiel mir sehr. Unter anderem liefen "Dirtygrrrls/Dirtybois" von Faderhead und "Sex, Drogen und Industrial" von Combichrist.
Mit Brandon unterhielt ich mich über Filme. Brandon erzählte, er habe ein Buch über Sophie Scholl gelesen, und er habe so sehr weinen müssen, daß er es noch nicht geschafft habe, Filme wie "Die weiße Rose" und "Sophie Scholl - Die letzten Tage" anzusehen. Ich erzählte, daß ich früher mit Vorliebe Endzeitfilme angesehen habe, doch sei ich mittlerweile abgesättigt mit grausigen Szenen und wolle mir so etwas nur noch eingeschränkt angucken. Daher hätte ich bei "Sophie Scholl - Die letzten Tage" häufig vorgespult oder Bildvorlauf gemacht.
"Genau das macht man doch in der Traumatherapie", wußte Brandon. "Man sieht sich in Gedanken ein traumatisierendes Ereignis an und kann Vorlauf, Rücklauf, Bildvor- und -rücklauf und Slow Motion machen."
"Ja, damit man die Erinnerungen beherrscht und nicht mehr von den Erinnerungen beherrscht wird."
Ich erinnerte mich an die Abenteuerserie "Sandokan", die 1979 im Fernsehen lief. Nie sei ich darüber hinweggekommen, daß die Filmfigur Marianna auf der Flucht durch den Dschungel auf Mompracem erschossen wird.
"Jetzt arbeite ich an einer Shortstory, in der ich die Geschichte weiterspinne", erzählte ich. "Die Namen habe ich verändert, aber die Figuren sind dieselben. Die Shortstory spielt fünfzehn Jahre nach Mariannas Tod. Das hat auch etwas mit dem Sequel von 'Sandokan' zu tun, das 1998 entstanden ist und weit hinter den Filmen von 1976 zurückbleibt. Das liegt im Wesentlichen an der weiblichen Hauptrolle, die eine glatte Fehlbesetzung ist. Sie ist viel zu jung für Sandokan und hat so gut wie nichts mit ihm gemeinsam. Zu Sandokan hätte eine Frau gepaßt, die etwas Ähnliches durchgemacht hat wie er und die auf viel Lebenserfahrung zurückblicken kann - eine Witwe zum Beispiel. Deshalb lasse ich in der Shortstory eine Witwe auftreten. Gemeinsam mit Sandokan baut sie in einem hölzernen Pavillon eine virtuelle "Bilderkammer", in der beide ihre traumatisierenden Erinnerungen unterbringen können."
"Das ist doch alles wie in der Traumatherapie", bemerkte Brandon. "Da spinnt man die Geschichten auch weiter und entwickelt einen virtuellen Ort, an dem man seine Erinnerungen unterbringen kann."
Brandon meinte, die Therapie der narzißtischen Störung habe viel gemeinsam mit der Traumatherapie, vieles stimme sogar genau überein.
Am DJ-Pult stand außer Torvil ein DJ namens Aryn, der erzählte mir, daß er mich oft im "Roundhouse" gesehen hat. Ich meinte, er könne mich dort ruhig ansprechen, ich würde mich darüber freuen.
"Ach, wenn du deine Pirouetten drehst, traue ich mich nicht so 'ran", sagte Aryn.
Gegen halb sechs war ich mit Brandon bei "McGlutamat" am Südschnellweg, zum Morgenkaffee. Ich aß frischen Salat. Brandon wurde immer müder, und ich brachte ihn nach Hause.
An Zara mailte ich:
Hab gehört, du bist schwer krank geworden. Macht mich sehr betroffen. Meld dich mal, danke dir.
Zara schrieb:
Liebe Hetty,
oha, ja, aber ich kämpfe ;-)
Von wem weisst Du es?
Liebe Grüsse,
Zara
Ich schrieb:
Das habe ich neulich im "Lost Sounds" gehört. Kappa wußte das und Jas auch. Ace hat Jas beim DAF-Konzert davon erzählt. Am 26.12. habe ich Ace im "Mute" getroffen, da wirkte er sehr niedergeschlagen, hat aber noch nichts erzählt.
Mußt du denn noch ins Krankenhaus? Ist da was geplant?
Eine Kollegin von mir hat es vor Jahren schon erwischt, die mußte immer wieder operiert werden, zuletzt im vergangenen Sommer. Sie hat zum Glück einen Freund, der sich sehr um sie kümmert. Das ist ja sehr wichtig, daß man mit sowas nicht allein ist.
Irgendwie stellt sich da ja alles auf den Kopf, die ganze Lebensplanung.
Bekommt man dich denn mal wieder irgendwo zu sehen? Oder geht es dir so schlecht, daß du lieber gar nicht aus dem Haus gehst?
Leider hörte ich danach von Zara nichts mehr.
Am Sonntag gab es bei mir ein Kerzen-Kränzchen, das Lucerna inszenierte, als Kerzen-Vertreterin. Es gab eine große Menge Mandel-Waffeln - ich verbrauchte ein halbes Kilo Mehl, fünf Eier und ein ganzes Stück Butter. Die Waffeln wurden im Handumdrehen alle, obwohl wir nur zu neunt waren.
Ein Kerzenleuchter hat einen kreisförmigem Boden und eine doppelte Wand aus Glas, so daß man Fotos oder schmückende Gegenstände wie Spitze oder Blätter hineinschieben kann. Wir stellten fest, daß meine Fotos von den Breitwand-Bildern aus Rafas Kurzfilm "Out of Body Experience" hineinpassen. Auf diese Weise stellte ich einen Leuchter her, den ein blaugetöntes Bild von einem badenden Rafa in halb zerrissener Kleidung ziert. Den Glas-Leuchter schenkten Sarolyn, Terry, Berit und Yasmin mir zum Geburtstag.
Am Vorabend meines Geburtstags waren abends Constri und Denise bei mir, es gab Torte und einen Geburtstagstisch. Constris Geschenk für mich ist eine Rarität, ein amerikanischer Scherzartikel, den Constri einer befreundeten Mutter abgekauft hat. Es ist eine Notizwand in Gestalt einer Latrine. Unter der Notizfläche befinden sich an imitierten weißen Kacheln zwei Pissoirs und ein Waschbecken mit Spiegel, Seifenspender und Händetrockner. Wenn man auf kleine rote Knöpfe drückt, ertönt der jeweils passende Sound. Mitten im Spiegel ist auch ein Knopf. Wenn man den drückt, sagt der Spiegel - fast wie bei "Schneewittchen":
"Ou, you look marvellous!"
Mein Vater erschien zum Geburtstagsfrühstück. Er brachte mir blühende Hammameliszweige aus seinem Garten mit. Als wir gegessen hatten, schleppte ich einen Karton mit einer Kommode herbei, die ich über ein Jahr lang nicht hatte aufbauen können, weil mir Zeit und Energie fehlten. Ich begann, die Kommode aufzubauen, und erwartungsgemäß hielt es meinen Vater nicht auf seinem Stuhl. Er half mit, und so konnte ich endlich etwas Ordnung in mein häusliches Chaos bringen. In zwei Schubladen brachte ich losen Papierkram unter, die dritte und größte reservierte ich für Geburtstagsgeschenke - ein weiser Entschluß.
Zum Mittagessen waren Constri, Denise und ich bei meiner Mutter. Es gab Hühnersuppe, Hühnerfrikassee und am Nachmittag den mittlerweise traditionellen Fotospaziergang. Die Garagen auf einem naheliegenden Hof sind numeriert, und für jeden Geburtstag gibt es die passende Zahl, unter der das Geburtstagskind fotografiert wird. Erst wenn wir die Fünfzig hinter uns gelassen haben, müssen wir uns andere Zahlen suchen.
Denise war bei Henk zum Haareschneiden gewesen und zeigte stolz ihre rosa Strähnchen. Constri hat im Friseursalon viele Fotos gemacht von Denise und Henk.
Abends gab ich meine Party, fünfundvierzig Gäste waren da. Gesa erschien zum ersten Mal nicht allein; sie hatte einen schmucken Burschen dabei, Marno. Er ist groß und schlank und sieht jung aus, scheint aber in Gesas Alter oder knapp darunter zu sein.
"Wie hat sie sich den geangelt?" war unsere stumme Frage angesichts der lautlosen Gesa.
Merle und Elaine waren auch da. Elaine trug lange glitzernde Ohrgehänge zu den immer länger werdenden Manga-Haaren. Sie hatte ein kurzes Röckchen an und eine schwarze Strumpfhose, passend zum Manga-Stil.
Elaine hat es geschafft, zum neuen Halbjahr einen Platz an der IGS zu bekommen. Sie ist erleichtert, nicht mehr zu der Realschule gehen zu müssen.
Rikka war mit ihren Lebensgefährten Domian da und wirkte so ausgelassen, wie ich sie von früheren Parties kenne. Gemeinsam mit Constri und einigen anderen schrieb sie merkwürdige Dinge ins Gästebuch.
Magnus hat für mich eine Lampe gebastelt, die ich bei ihm gesehen und bestaunt habe. Sie besteht aus dem Glas einer Grableuchte mit einer roten Lichterkette darin.
Von Dane bekam ich eine DVD voller "Roadrunner"-Filmchen, hinreißend freche und alterslose Cartoons. Von Fermin bekam ich ein schönes Bonbonglas, gefüllt mit schokolierten Kaffeebohnen und Merci pur. Von Cyra und Ginger bekam ich ein rosafarbenes Anti-Streß-Kuschelkissen und eine Mach-mal-Pause-Tasse, außerdem hübsch verpacktes Geld. Cielle war krank und konnte heute nicht dabei sein. Ihr soll es zumindest seelisch etwas besser gehen.
Ted war mit Blanca und Sylvain auf meiner Party. Sylvain ist mit seiner Ausbildung im Hotelfach zufrieden. Ted erzählte, daß er am morgigen Tag Cyans Witwe Catherine besuchen wollte. Catherine hat seit einiger Zeit wieder einen Lebensgefährten. Cyan war lange Zeit Teds Geliebter und starb vor mehr als drei Jahren nach einem Herzklappenersatz. Noch immer ist unklar, ob Catherine ahnte oder gar wußte, daß ihr Mann sie mit Ted betrog.
Magnus und Ted fanden im Gespräch einige Gemeinsamkeiten und verabredeten sich für die "Unterwelt" in BO. Ted war bei unserem letzten Besuch im Ruhrgebiet Magnus gegenüber sehr skeptisch und meinte, der sei eine Spaßbremse. Vielleicht hat er seine Meinung mittlerweile etwas abgeändert.
Folter war mit Giulietta auf der Party. Die beiden leben als Nachbarn fast familiär miteinander, fast wie ein Ehepaar, aber halt nur fast. Zu der Party brachten sie einen Herrn mit, bei dem es sich um einen von Giuliettas Verehrern handeln könnte.
Talis und Janice waren mit Hauke da, auch Virginia und Pascal erschienen. Virginia erzählte von ihren beiden Kindern. Das Jüngste - ihr Sohn - ist noch ein Baby. Sie freute sich, wieder einmal auszugehen. Vor zehn Jahren hatte Derek mit Virginia ein Verhältnis. Das ist nun lange vergessen.
Ferry erzählte eine bizarre Geschichte über Bürokratie. Am Fahrkartenautomaten bekam er einen Fahrschein, der mit einer absurden Uhrzeit bedruckt war, so etwas wie "29:34". Der Kontrolleur warf ihm vor, schwarzzufahren. Dem Verkehrsunternehmen war nur mit reichlich Mühe klarzumachen, daß der Fahrkartenautomat kaputt war und daß es die aufgedruckte Zeit gar nicht gibt.
Am Sonntagmittag war ich bei Constri und traf dort Ted, Blanca und Sylvain. Denise alberte mit Ted und Sylvain herum und ließ sich von ihnen in die Höhe heben.
"Sie braucht das so", meinte Constri. "Es fehlt der Mann im Haus, das merkt man."
In der Nacht zum Samstag war ich im "Roundhouse". Auf der Fahrt dorthin lauschte ich einer Nachtsendung im Deutschlandfunk. Darin ging es um Musik, und zwar um den Sampler "Verschwende deine Jugend" und um die rebellische Variante der Neuen Deutschen Welle. Stücke von Kraftwerk, DAF und Liaisons Dangereuses gab es zu hören. Der Moderator schien mit der Musik vertraut zu sein; er hat sich wohl in den achtziger Jahren davon auch schon begeistern lassen. Als Stück aus der heutigen Zeit, das der damaligen Musik ähnelt, brachte er eines von Schwefelgelb, eine Underground-Combo, an deren Musik man kaum herankommt. Schwefelgelb haben die NDW-Zeit nicht mehr miterlebt, sie gehören zu einer späteren Generation.
Marvel hat eine neue Freundin, die sich meistens bei ihm hintern DJ-Pult aufhielt und ihn zu bewachen schien. Sie ist deutlich jünger als er und hat lange blonde Haare.
Joujou ging heute in Weiß, ein Kontrapunkt zu dem gewohnten Schwarz. Sie hatte sich ein schwarzweiß kariertes Schleifchen ins Haar gebunden. Ihren Job bei Microsoft hat sie immer noch.
Am Samstagvormittag habe ich Folgendes geträumt:
Im "Roundhouse" hatte ich mich vorm DJ-Wagen auf einen Barhocker gestellt, so daß ich mich über die Brüstung auf Augenhöhe mit Marvel unterhalten konnte. Ich plauderte mit ihm, bis er sich wieder dem DJ-Pult zuwandte. Da kam von der gegenüberliegenden Seite her, wo sich Treppchen und Türchen des DJ-Wagens befinden, Rafa zum Pult heraufgestürmt, in schwarzer Jacke, mit CD-Köfferchen. Er stellte das Köfferchen bei Marvels CD's ab und eilte nach vorn an die Brüstung, wo ich stand. Wie von selbst legte ich Rafa den linken Arm um die Schultern, in der Annahme, daß er sich mir entziehen und fortlaufen würde. Das tat er aber nicht. Er schaute kurz - in sich gehend, prüfend - halb auf mich, halb an mir vorbei, und entschied dann wohl, sich heute wenigstens ein bißchen auf mich einzulassen. Er wandte sich mir zu. Ich legte beide Arme um Rafa, unsere Gesichter näherten sich, meine Lippen suchten die seinen. Fast konnte ich ihn küssen, da drehte er sich zögernd ein Stück zur Seite, und ich legte meine Wange an seine. So verharrten wir. Der Traum zerfiel, und im Aufwachen fühlte ich noch die Wärme seines Körpers.
Der Traum war sehr realistisch, sehr greifbar, fast wie etwas tatsächlich Erlebtes.
Am Samstagabend war ich bei Constri und Denise zum Essen. Constri erzählte, im Kindergarten hat sie Denise und deren Freundin Taryn in einem winzigen Spielhaus beobachtet. Die beiden Sechsjährigen saßen einander an einem winzigen Tisch auf winzigen Bänken gegenüber und tippten auf alten Tastaturen herum. Als Constri sich erkundigte, was sie machten, erklärten sie, sie hätten mit den Tastaturen ein Flugzeug gesteuert, und jetzt tippten sie einen Brief. Taryn sei - im Spiel - elf Jahre alt geworden, und Denise sei die Mutter von Taryn. Der Brief sei bestimmt für den geheimen Stern von Denise.
Constri berichtete, daß Elaine überglücklich von ihrem ersten Schultag in der IGS in Lnd. nach Hause kam. Nie habe sie damit gerechnet, so freundlich aufgenommen zu werden. An dieser IGS hat meine Kollegin Lana Abitur gemacht, im Jahre 1985. Damals soll sich die Schule wenig um benachteiligte Kinder gekümmert haben. Das ist offenbar anders geworden. Man schaut gerne daheim bei den Kindern vorbei, die öfter schwänzen. Es wird auch darauf geachtet, daß ihnen jemand bei den Hausaufgaben hilft. Die überforderte Merle könnte sich dadurch entlastet fühlen. Allerdings wird sie sich womöglich auch kontrolliert fühlen.
Elaine hat viele Termine und Schulstunden versäumt, ohne daß es Merle gelang, sich ihr gegenüber durchzusetzen. Etliche Male hat Merle der Schule etwas vorgelogen. Sie klagte meiner Mutter ihr Leid, daß sie mit dem Kind nicht mehr fertigwerde. Meine Mutter gab zu bedenken, wenn Merle Elaine mehrere Tage vor Ferienbeginn aus der Schule nehme, um mit ihr in den Urlaub zu fahren, müsse sie sich nicht wundern, wenn es dem Kind an Motivation fehle.
Meine Mutter hat versucht, Elaine Nachhilfe zu geben, dies scheiterte jedoch an Elaines Unzuverlässigkeit. Wenn Elaine keine Kehrtwende schafft und auch die neue Schule nur unregelmäßig besucht, wird sie eines Tages ohne Schulabschluß dastehen.
Mit Constris Unterstützung hat Denise mir eine E-Mail geschrieben:
liebe hetty!
äf8888888888888KÄ665ÖLIZOOWMNPÄKD3IU00000HJUIKOLÜ90
DETINISEZRDTARARYNE-
EIÖLIOOOKKPOOOOPOPÜBKHÄ NBK6HÜJPOIBKBKBBDENISEJKLIIK99IO+++++DENISE
DFZHK,LÖLPÖÖ.ÜPÄÜÄÄ+####
... und so weiter ...
Dann folgte:
VIELE GRÜSSE DEINE
DENISE DENISE DENISE DENISE DENISE DENISE DENISE
... und so weiter ...

Mitte Februar war ich wieder beim Rippchenessen im "Keller". Mit Highscore, Maddox, Mavis, Lucerna, Kayley und Marie-Jo saß ich am Tisch. Veva erschien auch mit ihrem Freund, sie saßen gegenüber am Tisch. Highscore erzählte von seiner Arbeit. Ein junger, karriereorientierter Vorgesetzter hatte sich in die Arbeit im Lager eingemischt und wollte alles besser wissen. Highscore wies ihn zurecht:
"Wir schaffen das schon."
Maddox erzählte von der Tagesklinik im "Zuckerschlößchen". Er habe einen Therapeuten zugeteilt bekommen, der vorher im Haupthaus gearbeitet hatte und sich dort unbeliebt gemacht hatte. Nun machte er sich in der Tagesklinik unbeliebt. Maddox hatte den Eindruck, daß der Therapeut ihm gar nicht zuhörte und ihn nicht ernst nahm. Einmal habe der Therapeut zu ihm gesagt, er habe doch gar keine Probleme und eigentlich gar keinen Grund, hier zu sein. Maddox sagte schließlich zu ihm, er habe den Eindruck, daß er ihm nicht zuhörte, und deshalb wolle er den Therapeuten wechseln. In Vertretung hatte er schon eine andere Therapeutin gehabt, mit der er gut zurechtgekommen war. Der Therapeut gab sich erstaunt und fragte, weshalb Maddox den Therapeuten wechseln wollte. Maddox entgegnete, eben das sei ja das Problem - wenn er ihm zuhören würde, wüßte er es.
Mavis hat ihr Studium der Politik und Geschichte in HB. abgebrochen; es sei doch nicht das Richtige für sie. Sie wolle sich neu orientieren. Vielleicht werde sie im sozialen Bereich arbeiten, vielleicht in der Jugendarbeit.
Gegen halb elf erschien Rafa, in Begleitung von Darienne.
"Oh nein", stöhnte Mavis und verdrehte die Augen."Seht ihr das?"
"Er hat immer noch was mit Darienne", sagte ich vernehmlich. "Er hat immer mehrere, die er poppt. Er könnte Darienne gar nicht in der Band halten, wenn er sie nicht immer wieder befriedigen würde."
Maddox meinte, es gezieme sich nicht, so laut zu sagen, was man denkt.
"Bei anderen Leuten bin ich wesentlich dezenter", erklärte ich. "Hier in diesem Fall mache ich eine Ausnahme."
Darienne trug ihre Haare auch heute ampelrot. Rafa trug eine schwarze Lederjacke und hatte keine Brille auf. Die beiden setzten sich allein an den Tisch neben unserem, weit nach hinten, wo die Rippchen standen. Rafa tat sich ordentlich auf, Darienne aß nichts. Beide redeten sehr wenig. Rafa war auffallend leise. Ich bin es gewohnt, daß er seinen Begleitern lange Reden hält, das war heute aber nicht der Fall, er war ungewöhnlich schweigsam. Darienne redet ohnehin kaum. Zwischendurch wurden die beiden etwas lebhafter und machten Blitzlicht-Fotos.
Im "Keller" wurde es allmählich leerer. Ich saß mit Maddox und Mavis, und wir redeten über Irrenhäuser und Ruinen. Maddox und Mavis erzählten von einer aufgegebenen Kaserne in H. - nahe meinem Stadtviertel -, die auch Highscore kennt. Die Überreste der Kaserne bieten ein Entdeckerterrain für Abenteuerlustige und ein Naherholungsgebiet für Hundehalter. Mavis ist vor allem von den Kellergewölben fasziniert. Um den dortigen Schatz fürs Geocaching zu heben, mußte man im Keller eines Gebäudes durchs Wasser waten.
Ein anderer Geocaching-Schatz, der leicht zu sehen, aber schwer zu heben ist, soll sich in SHG. auf einem Parkplatz oben auf einem Laternenmast befinden. Es gibt immer mehr dieser Caches, auch an sehr ungewöhnlichen Orten. Die Ausbreitung der Caches reicht sogar bis zur Raumstation ISS.
Maddox erzählte, er wisse nun, wer meine Kollegen seien, die zum Jahresbeginn von der Psychiatrie in Lk. in das "Zuckerschlößchen" in RI. gewechselt sind. Bald komme noch eine Kollegin dorthin. Ich wußte schon, um wen es sich handelte: Bernades, die derzeit im Neurologie-Jahr ist und schon angekündigt hat, danach ins "Zuckerschlößchen" wechseln zu wollen.
Ich meinte, die Psychiatrie in Lk. sei recht groß, doch sei das Haus kein richtiges Irrenhaus, sondern ein Allgemeinkrankenhaus mit psychiatrischer Abteilung. Kingston, das sei ein richtiges Irrenhaus.
Während wir uns über Irrenhäuser unterhielten, war Rafa so still geworden, daß ich für einen Augenblick dachte, er sei nicht mehr da. Ich wurde das Gefühl nicht los, daß er mit messerscharfer Aufmerksamkeit lauschte.
Als Maddox und Mavis fort waren, ging ich zu Bibian in den Schankraum und plauderte mit ihr. Rafa kam mit Darienne auch dorthin. Er bezahlte, und als Bibian ihm die Zeche nannte - einen Betrag zwischen siebzehn und achtzehn Euro -, fragte er:
"Wofür das denn?"
"Na ja, einmal Rippchen, vier Bier ...", rechnete Bibian ihm vor.
"Ja, stimmt schon", nickte Rafa.
Am Valentinstag feierte Clarice ihren Geburtstag im "Dom & Sub". Mit ihr feierten noch zwei andere Leute aus der BDSM-Community. Überraschungsgast war Laurie mit seinem jetzigen Lebensgefährten. Dem stellte Laurie mich vor mit den Worten:
"Die beste Beschreibung ist 'Elektro-Ballerina'."
Laurie ist mit seinem Lebensgefährten aufs Land gezogen. Es sei schön dort draußen, aber so abgelegen, daß die Hemmschwelle hoch ist, nachts auszugehen, eben weil der Weg nach Hause so beschwerlich ist. Sie wohnen in der Nähe von HI.
Layana scheint nach wie vor gut mit den überlangen Arbeitszeiten im Landschaftsarchitekturbüro zurechtzukommen. Sie erzählte, ihr Projekt komme so gut an, daß sie immer wieder verlangt wird, auch wenn sie eigentlich mehr Abwechslung in ihr Berufsleben bringen will. Für das Musikmachen bleibt ihr und ihrem Partner kaum noch Zeit.
Mit Constri unterhielt ich mich an der Theke über Anspruch, Selbstanspruch und Wirklichkeit. Constri neigt dazu, Erwartungen an sich selbst zu richten, die sie nicht erfüllen kann. Das führt zu Frustration und Selbstentwertung, was Constri umso mehr daran hindert, ihre Erwartungen zu erfüllen.
Ich erzählte, daß ich mich mit unlösbaren Problemen arrangiert habe und auf diese Weise dafür sorge, handlungsfähig zu bleiben:
"Ich lebe jeden Tag mit unlösbaren Aufgaben."
"Was denn für Aufgaben?"
"Rafa ist für mich immer anwesend, in Gedanken ist er für mich rund um die Uhr anwesend, und er ist ein ewig unlösbares Problem. Ich muß mich damit arrangieren, ich habe keine Wahl."
Nachts war ich in dem Gay-Club "Räuber & Prinz", wo Janice mit ihren Geburtstagsgästen hingezogen war. Es gab dort eine Art "Elizium"-Revival-Party mit dem Titel "N8falter". Am DJ-Pult standen unter anderem Spheric und Velroe.
Hauke erzählte von seiner Jugend im Harz. Er ist als Teenager mit seiner sieben Jahre älteren Schwester in die Harzer Szene-Läden gegangen. Als er in den neunziger Jahren nach H. kam, entdeckte er das "Elizium" für sich und wurde dort Stammgast.
Die Musik, die heute lief, erinnerte an die frühen "Elizium"-Zeiten. Unter anderem liefen das melancholische "Last Exit for the Lost" von den Fields of the Nephilim, "Wild World" von Love is colder than Death und "Face to Face" von Siouxsie & the Banshees. Außerdem liefen "Cantus" von Faith and the Muse und - als neuerer Titel - "This shit will fuck you up!" von Combichrist.
Am Donnerstag war ich im "Plaste & Elaste", wo Polarkreis 18 auftraten. Die Bandmitglieder trugen Kleidung im Wilde-Jungs-Stil, aber ganz in Weiß, was einen interessanten Kontrast ergab und zu dem Corporate Design im Polar-Look paßte. An der Saaldecke waren kugelförmige Reispapier-Lampenschirme über hellblaue Lichter gestülpt. Die Jungs schienen viel Spaß am Musizieren zu haben und mit Eifer bei der Sache zu sein. Sie konnten das Publikum ohne Weiteres mitreißen.
Am Freitag war ich mit Terry im "Roundhouse". Marvel legte im großen Saal auf. Das unbestrittene Highlight der Nacht war "- 28 °C and falling" von Iszoloscope. Marvel spielte es als letztes Stück. Außerdem liefen "Concrete Rage" von P.A.L und "Lost Highway 45" von Imminent Starvation. Ein Gast-DJ hatte zuvor Klassiker aus den Achtzigern gespielt, darunter eines meiner ewigwährenden Lieblingsstücke: "People are People" von Depeche Mode.
Überraschungsgast der Nacht war Max, der sich schon lange nicht mehr im "Roundhouse" hatte sehen lassen. Er berichtete, daß sein neues Album fast fertig sei; es fehlten noch vier Stücke. Ich beschwor ihn, mir das Album mitzubringen, sobald es fertig ist.
Terry erzählte, daß Linus noch immer vorwiegend im "Second Life" zu Hause ist. Sie selbst nimmt seit etlichen Jahren an einem Online-Game teil, das sie so dosiert, daß ihre privaten Aktivitäten noch genügend Platz in ihrer Freizeit haben. Online-Games haben eine brisante Sogwirkung. Sie sind so angelegt, daß man umso mehr Erfolg verbuchen kann, je länger und häufiger man in der Online-Spielwelt anwesend ist. Das führt bei labileren Naturen dazu, daß sie ihr Leben mehr und mehr dem Spiel unterordnen und im schlimmsten Fall nur noch im Spiel leben, nicht mehr in der wirklichen Welt. Das betrifft vor allem diejenigen, die wegen Arbeitslosigkeit ein Übermaß an Zeit zur Verfügung haben. Sie definieren im ungünstigsten Fall ihren persönlichen Erfolg nur noch über den Erfolg im Spiel.
Am Samstagnachmittag war ich bei Mina in BS. Mit Arnon, der an diesem Wochenende bei ihr zu Besuch war, hatte Mina sich vorhin im Supermarkt gestritten. Arnon hatte sich, wie Mina berichtete, so übereifrig und überfürsorglich und dabei so besserwisserisch gezeigt, daß sie ihn fortschickte.
Mina erzählte, daß sie Arnon vor anderthalb Jahren in Wien kennengelernt hat. Er wisse, daß sie krank sei, das sehe man ihr schließlich an. Die ungünstige Prognose von Minas Tumorleiden schiebe er jedoch weit weg.
Mina geht wieder arbeiten, in Kingston. Unsere Kollegin Arlena fährt sie, weil Mina aufgrund ihrer Behinderung nicht mehr Auto fahren kann. Mit Handschaltung könnte Mina zwar noch fahren, doch scheut sie den damit verbundenen Aufwand.
Mina beklagte laufende Auseinandersetzungen mit Fanny Gottseibeiuns, der Abteilungsleiterin. Fanny ist die ehemalige Geliebte des ehemaligen ärztlichen Direktors in Kingston. Als der in Pension geschickt wurde, machte er Assistenzärztin Fanny als eine Art Abschiedsgeschenk zur Leiterin der Gerontopsychiatrie. Was er damit anrichtete, dürfte ihm - der für seine Borniertheit und Eigensucht bekannt ist - herzlich egal sein. Mina jedenfalls plant, sich nächstes Jahr berenten zu lassen.
Mina erzählte von ihrer Familie. Zu ihrer Schwester Brigida habe sie eine sehr enge Bindung. Ihre Mutter sei psychisch krank, seit sie denken könne; an was die Mutter leiden soll, konnte Mina jedoch nicht recht beschreiben. Jedenfalls sei die Mutter launisch und ichbezogen. Diese Eigenschaften bedeuten freilich nicht unbedingt, daß jemand krank ist. Der Vater habe sich schon vor längerer Zeit von der Mutter getrennt und habe eine neue Lebensgefährtin. Mit dem Vater versteht Mina sich gut.
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